Ansprache zum Pogromgedenken am 9. November 2023 und
Verlesung der Namen deportierter und ermordeter Alsfelder Juden

Von Pfarrer Peter Remy, Alsfeld (2023)

Gedenken, Erinnern, ist immer konkret. Deshalb will ich am Anfang erinnern an das, was hier, wo wir jetzt stehen, heute vor 85 Jahren geschah:

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in Deutschland 1400 Synagogen. Auch in Alsfeld brannte das jüdische Gotteshaus, hier, wo wir jetzt stehen. Am 9. November 1938 stürmte eine grölende Menge um 21.15 Uhr die Synagoge und setzte den Innenraum in Brand, warf alle Fensterscheiben ein und demolierte die Kultgegenstände. Die Täter waren nicht nur, wie wir sagen, „die Nazis“, so als wären das Fremde gewesen, die von irgendwoher gekommen waren. Die Täter waren auch Menschen aus der Mitte der Alsfelder und Vogelsberger Bevölkerung, sogenannte „unbescholtene Bürger“, die meisten waren sicher getaufte Christen.

Manche Alsfelder standen hier, wo wir jetzt stehen und sahen zu, was geschah, andere gingen schnell vorüber. Die Feuerwehr war angewiesen, nicht zu löschen, sondern nur die angrenzenden Häuser zu schützen. Ein Feuerwehrmann wollte in die Synagoge um zu löschen. Er wurde mit gezogener Pistole davon abgehalten!

Nach dem Brandanschlag auf die Synagoge zogen die Täter lärmend durch die Stadt. In den Häusern, in denen jüdische Familien lebten, warfen sie die Fensterscheiben ein, die Geschäfte jüdischer Inhaber wurden verwüstet. Alle jüdischen Männer wurden im Gefängnis in der Hersfelder Straße eingesperrt, „Schutzhaft“ wurde das zynisch genannt. So zynisch, wie die Ereignisse dieser Nacht später „Kristallnacht“ genannt wurden, so als wären nur Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Von einstmals 220 jüdischen Einwohnern lebten 1938 noch etwa 100 in der Stadt, 1941 dann pries sich unsere Stadt damit, „judenrein“ zu sein, wie das genannt wurde.

Alles, was damals geschah, hatte einen langen Vorlauf. Spätestens im Jahr 1923, beim sog. Hitlerputsch, also vor 100 Jahren, konnte jeder, der hinschaute, sehen, wohin der Judenhass in Deutschland führen würde.

Alles, was heute geschieht, hat einen langen Vorlauf. In Deutschland ist es wieder soweit, dass sich Juden nicht mehr trauen, sich als Juden zu erkennen zu geben. Kein religiöser Jude kann mehr mit der Kippa durch eine deutsche Stadt gehen, ohne sich zu gefährden. Nach dem 7. Oktober, dem Tag der mörderischen Hetzjagd auf Menschen in Israel, blieben hier bei uns aus Angst viele jüdische Kitas und Schulen geschlossen. In Frankfurt und in vielen anderen Städten werden Häuser, in denen jüdische Menschen leben, mit Davidsternen beschmiert. Israelische Flaggen werden verbrannt. Das Internet ist voll von menschenverachtender antijüdischer Hetze in Bild und Wort. Man muss kein Unheilsprophet sein, um zu erahnen, dass bald wieder Synagogen brennen könnten.

Und täuschen wir uns nicht: Es sind nicht alleine fanatische Islamisten, von denen das ausgeht, auch wenn es in diesen Tagen so aussieht. Das Schweigen der Rechtsradikalen ist ein beredtes Schweigen: Sie schweigen, weil sie sehen, das andere für sie „ihr grausames Geschäft“ erledigen, in Israel und auch hier bei uns. Sie schweigen, obwohl sie sonst bei jeder Gelegenheit unterschiedslos gegen Muslime und den Islam hetzen. Sie schweigen, denn jetzt geht es gegen Israel und gegen die Juden, dann werden auch die, die man sonst verachtet, von Feinden zu Freunden.

Das Problem, liebe Mitbürger, ich will das hier deutlich sagen, ist nicht „der Islam“ oder „die Muslime“, das Problem ist der Judenhass in den Köpfen und Herzen so vieler Menschen. Die Ereignisse des 9. November 1938 und alles, was dann folgte mit dem Völkermord an 6 Millionen Juden, war die grausame Frucht der zweitausend Jahre alten Geschichte des christlichen Judenhasses. Jahrhundertelang wurden Christen zur Verachtung der Juden erzogen. Genauso ist es in der arabisch-muslimischen Welt seit Jahrzehnten. Jetzt geht diese Saat des Hasses auf!

65% der Bevölkerungen in den arabisch-muslimischen Staaten stimmen der Aussage zu, die Juden seien für alle Übel der Welt verantwortlich. Es ist keine Muslimfeindlichkeit, wenn wir das offen aussprechen. Genauso wenig wie es christenfeindlich ist, zu sagen, dass die alte christliche Judenfeindschaft, die auch heute noch verbreitet ist, zum Holocaust geführt hat. 23% aller Deutschen, so zeigt eine aktuelle Erhebung des Allensbach-Instituts, vertreten auch heute noch klar antisemitische Positionen.

Mit dem Finger auf andere zeigen, ist immer leicht.Die Empörung über die anderen, über „die Nazis“ oder „die Hamas“, reicht nicht aus.

Die Einsicht, an der wir uns nicht vorbeimogeln dürfen, ist die: Ohne das Wegschauen so vieler ganz normaler Bürger, ohne die Zustimmung und Mitwirkung viel zu vieler Zeitgenossen hätte es weder den Holocaust gegeben noch das, was am 7. Oktober 2023 in Israel geschehen ist.

Wir brauchen keine hehren Parolen von „Staatsräson“ und „Zeitenwende“ und „Nie wieder“. Wir brauchen Bürger, die ihre eigene Verantwortung erkennen und wahrnehmen. Möge uns das Gedenken heute dazu verhelfen.

Gedenkstein in der Lutherstraße
In den Gedenkstein eingelassene Plakette

Verlesung der Namen deportierter und ermordeter Alsfelder Juden

„Ein Denkmal und ein Name“

„Yad Vaschem“ – so heißt die zentrale Gedenkstätte in Israel für die sechs Millionen jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Yad Vaschem, das bedeutet sinngemäß: „ein Denkmal und ein Name“. Um beides soll es uns auch jetzt gehen: um ein Denkmal und um Namen.

Das Denkmal am Platz, an dem die Alsfelder Synagoge stand: Ein Mal in unserer Mitte –Wundmal, Mahnmal, Totenmal. „Ein Denkmal und ein Name“: jeder Täter trug einen Namen, jedes Opfer trug einen Namen.

Yad Vaschem – „ein Denkmal und ein Name“. Diese Bezeichnung geht auf ein Wort der hebräischen Bibel zurück. Beim Propheten Jesaja heißt es: So spricht der Ewige: Ich werde ihnen einen ewigen Namen geben, der niemals ausgetilgt wird (Jes 56,5). Kein Name wird von Gott vergessen: kein Name der Opfer – kein Name der Täter, kein Name derer, die widerstanden haben – es waren Wenige, aber es gab sie, auch in Alsfeld.

Wir hören jetzt 49 Namen, die Namen all der jüdischen Menschen unserer Stadt, von denen wir (bisher) wissen, dass sie deportiert und ermordet wurden. Hinter jedem Namen steht ein Leben, viele Leben, Familien, Menschen, die suchten, was wir alle suchen: das große Glück, ein Leben zu haben. Auch in Israel werden in diesen Tagen immer wieder Namen verlesen. Die Namen der 1400 Kinder, Frauen und Männer, unter ihnen auch Holocaust-Überlebende, die bei der wahllosen Hetzjagd auf Juden am 7. Oktober auf bestialische Weise ermordet wurden von Menschen, die jede Menschlichkeit und Selbstachtung verloren haben.

Die Namen werden verlesen:

Friedericke Adler, 65 Jahre
Hedwig Löser, 63 Jahre
Isaak Rothschild, 64 Jahre
Julius Stern, 71 Jahre
Ida Bär, 54 Jahre
Frieda Lorsch, 65 Jahre
Selma Rothschild, 67 Jahre
Auguste Stern, 63 Jahre
Sally Bär, 67 Jahre
Sara Lorsch, 81 Jahre
Susanne Rothschild, 82 Jahre
Walter Stern, 28 Jahre
Adele Bettmann, 71 Jahre
Gustav Lorsch, 48 Jahre
Fanny Speier, 70 Jahre
Marim Stern, 44 Jahre
Jakob Bettmann, 70 Jahre
Selma Lorsch, 44 Jahre
Erna Stern, 44 Jahre
Levi Buxbaum, 66 Jahre
Norbert Lorsch, 15 Jahre
Albert Stein, 58 Jahre
Lotte Stern, 11 Jahre
Jeanette Strauß, 21 Jahre
Siegfried Döllefeld, 69 Jahre
Arno Lorsch, 14 Jahre
Cilly Stein, 57 Jahre
Marga Stern, 14 Jahre
Salomon Flörsheim, 78 Jahre
Johann Lorsch, 57 Jahre
Alice Stein, 41 Jahre
Auguste Strauß 68 Jahre
Julius Justus, 63 Jahre
Karl Lorsch, 46 Jahre
Ernst Stein, 8 Jahre
Josef Strauß 71 Jahre
Rosa Justus, 65 Jahre
Philipp Moses, 56 Jahre
Walter Stein, 12 Jahre
Rebekka Strauß, 69 Jahre
Regina Levi, 70 Jahre
Ida Moses, 52 Jahre
Levi Stein, 69 Jahre
Meta Strauß, 36 Jahre
Markus Strauß, 59 Jahre
Siegmund Lindenbaum, 60 Jahre
Therese Strauß, 58 Jahre
Frieda Rothschild, 75 Jahre
Henny Stein, 57 Jahre

Die Leben wurden vernichtet, die Namen bleiben. Sie erheben sich auch jetzt in dieser Stunde, an diesem Ort, an dem die Alsfelder Synagoge stand, zur himmlischen Höhe und bleiben bis in Ewigkeit.

Die Jugendlichen verteilen jetzt 49 kleine Steine. Auf jedem dieser Steine steht einer der verlesenen Namen.

Nach der abschließenden Musik gehen wir schweigend zum Denkmal. Dort könnt Ihr/ können Sie den Stein in Ihrer Hand auf oder an den Gedenkstein legen, wie es jüdischer Brauch beim Besuch eines Grabes ist. Blumen vergehen, Steine nicht. Und nicht der Name, der darauf geschrieben steht. Ein Denkmal und ein Name in unserer Hand: Yad Vashem.

© 2023 – Peter Remy, Alsfeld

[Stand: 11.03.2024]