Von Heinrich Dittmar, Alsfeld (2008)
Vortrag anlässlich des „Christkindwiegens“ auf dem Turm der Walpurgiskirche im Jahr 2008
Vorwort
Vor 28 Jahren, also in 1980, hatte ich erstmals die Ehre, auf dem Turm der Walpurgiskirche zu sprechen. Als Thema hatte ich mir die „Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld“ ausgesucht. Meine Quellen waren damals die Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, Akten des Stadtarchivs und Artikel aus der Oberhessischen Zeitung.
An diesem Abend wies ich darauf hin, dass im Jahre 1986 der Turm am Fulder Tor 600 Jahre alt würde. Emil Walther, der den Bürgermeister damals vertrat, regte sofort eine Geburtstagsfeier an. Dr. Herbert Jäkel griff das Thema auf, gestaltete eine Ausstellung im Museum und verfasste ein Mitteilungsheft [01], das den Titel trug: „Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld“.
Bei meiner Materialsuche war ich auf einen Zeitungsartikel vom 26. August 1899 in der Oberhessischen Zeitung gestoßen. Dieser befasste sich mit einem Ereignis, das bei der Turmreparatur 1899 geschah. Davon soll mein kleiner Vortrag berichten.
Kerle, woas Kerle
Den steinernen Riesen am Fulder Tor, dessen imposantes Äußere unserer Stadt unstreitig zur Zierde gereicht, umgab in 1899 ein Gerüst, mit dessen Hilfe notwendige Reparaturen, die im Verkleben der schadhaft gewordenen Fugen des Mauerwerks bestehen, im Auftrage unserer städtischen Verwaltung vorgenommen werden.
Mehrere Alsfelder, zum Teil Mitglieder des hiesigen Geschichts- und Altertumsvereins, erstiegen an einem Mittag, die Gelegenheit sich zu nütze machend, das Rüstwerk, um von da, aus einer Höhe von 6 Metern über dem Erdboden, ins Innere des Turmes zu gelangen. Jeden drängte es, die Geheimnisse des ehrwürdigen Zeugen aus der Vergangenheit unserer Vaterstadt, an dem man als Kind Tag für Tag mit einem gewissen heiligen Respekt vorbeigewandelt und die dem jugendlichen Geist stets als ein Buch mit sieben Siegeln vorschwebten, einmal auszuforschen.
Die kühne Phantasie verlor indes beim Betreten des Turminneren ihren Schwung an den starren, kahlen Wänden, inmitten gähnender Leere. Ein hoher festgefügter, steinerner Zylinder, über dem sich ein spitzer Kegel aus gleichem Stoff wölbte, das Ganze erleuchtet durch unregelmäßig angebrachte vergitterte Luken, das waren die Eindrücke, die der erst auf große Überraschungen vorbereitete Geist zu verarbeiten hatte. Doch halt – unter den Eindringlingen lag‘s noch metertief in kohlschwarzer Finsternis da. Ein kreisrundes Loch inmitten des Bodens, auf dem sie standen, fesselte die Anwesenden.
An einem Bindfaden wurde eine mitgebrachte Laterne hinabgelassen, die das sechs Meter hohe Verließ beleuchtete. „Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?“ Rascher als in Schillers Taucher meldete sich der Held, der darauf an einem von den anderen gehaltenen Tau unter allseitigem „Glückauf“ in den Schacht fuhr und unter donnerndem Hurra unten landete. Andere folgten ihm. Unten begannen die Forscher ihre wissenschaftliche Arbeit. An der Südseite des Turminneren wurde der Eingang zu einem unterirdischen, jetzt verfallenen Gang entdeckt, der etwa nach der Walkmühle führen dürfte. Derselbe maß ein Meter in die Tiefe, 85 cm in die Breite und 65 cm in die Höhe.
Eine Abräumung des in gewaltigen Mengen am Boden liegenden Schuttes dürfte den Eingang indessen bis zur Manneshöhe freilegen. Weiter fanden sich eine Anzahl Holzteile, die sich als Bruchstücke einer Winde erwiesen, deren Bestimmung es seiner Zeit gewesen sein dürfte, den Personenverkehr im Turm zwischen der Unter- und Oberwelt zu vermitteln; erste Klasse sind demnach die gefangenen Feinde bei unseren Vorfahren nicht gefahren. Eine Anzahl der auf dem abschüssigen Boden des Turmes zerstreut liegenden Euleneier wurden als willkommene Beute mitgehen geheißen. Dann wurde die Rückfahrt angetreten, die – wenn auch etwas „behebter“ – gleichfalls ohne Unfall vonstatten ging.
Der Turm hat einen Durchmesser von 8 Metern (die Mauern sind 2,38 Meter dick), sein Umfang beträgt mithin etwa 25 Meter. Das Mauerwerk scheint nach oben hin im Durchmesser etwas schwächer zu werden und der Hohlraum des Turminneren zuzunehmen.
Die Expedition trat befriedigt den Rückzug in die Außenwelt an. Draußen harrte ihrer aber eine unliebsame Überraschung. Vor der Ausgangstür hatte sich, hochrot vor Zorn, der Meister aufgepflanzt, dem das Gerüst gehörte; er verteidigte mit dem Aufgebot seiner ganzen Lungenkraft sein Eigentum und seine Autorität. Die Entdeckungsreisenden hatten, wie sich herausstellte, in ihrem Forschungsdrang leider vergessen und gewagt, beim Meister um „Höchstdero Erlaubnis“ zum Besteigen des luftigen Baues respektive des Gerüstes einzukommen. Das rächte sich bitter. „Halt, wer hor Aich die Erläubnis gegoawe? All seid’r oan dr Latt!“, donnerte der freundliche Mann die Eindringlinge an – „ohne die Röcheling fer Be- on Oabnotzing vom Gerest!“
Die Expedition, noch bewegt von den gruseligen Eindrücken im Turminneren, war baff. Mit derartigen Schwierigkeiten hatte man nicht gerechnet. Daneben machten unsere Freunde die Entdeckung, dass die zum Gerüst führende Leiter mittlerweile fortgezogen worden war. Das Volk auf der Straße jauchzte laut auf vor Vergnügen. Ehe sich’s der Meister versah, war die Expedition, mit deren turnerischen Fähigkeiten man wohl nicht gerechnet hatte, ohne Fährnis zum Gaudium der Umstehenden auf dem Boden gelandet. Das brachte den Widersacher begreiflicherweise erst recht in Harnisch und er machte sich unter lauten Verwünschungen direkt auf den Weg zum Polizeiamt.
Die Expedition war wenig erbaut über diese Schlusswendung ihres Unternehmens, wiewohl es um einige Mundwinkel verdächtig zuckte. Gleichwohl half die Freude über die interessanten Entdeckungen in den Eingeweiden des alten „Lennert“ unseren Freunden über die beunruhigenden Gedanken, die der Protektor wissenschaftlicher Forschung, der sein gutes meisterliches Recht verkümmert glaubte, durch seine fürchterlichen Drohungen bei ihnen wach gerufen hatte.
Zum Schluss noch einige Bemerkungen über den Turm: Den Namen „Leonhardsturm“ trägt er zweifellos zu Unrecht. St. Leonhard oder Lenhard heißt zu deutsch soviel wie der Löwenstarke und galt derselbe auch als Schutzpatron der Gefangenen, auch soll im Mittelalter über dem Fulder Tor ein auf diesen Bezug habendes Gemälde angebracht worden sein. Richtiger als obiger ist der heute im Volksmund gebräuchliche Name „Lennert“ oder wie früher „Leiner“, das heißt Leineweberturm. Auch wird das Tor „Lenngrabentor“ genannt in einem Bauregister vom Jahre 1479, worin es heißt: „Anno 1479 seynd drei Wagen voll Holtz zu dem Lenngrabentor verrechnet worden.“ „Lenn“ ist das mittelhochdeutsche Wort „lin“, das heißt Flachs, Lein und im Lenngraben wurde jedenfalls das Flachs erweicht. Die Leineweber, welche in der Webergasse, heutige Fulder Gasse, wohnten, hatten wohl eine Beisteuer zum Turmbau zu entrichten und ihrer Zunft fiel auch die Instandhaltung und Verteidigung des Turmes zu. Der „Leinerturm“ ist ein ehrwürdiges Wahrzeichen eines der ältesten städtischen Gewerbe.
Die Chronik von Gilsa-Leußler [02] meldet uns aus dem Jahre 1664 über den Turm Folgendes: Der Fulderturm ist beim Fuldertor neben die Pforten außerhalb der Mauern in eine Ecke des Stadtgrabens gebauet. Oben anstatt des Daches ist er mit dem Gemäuerts vollends ausgeführet und gespitzet. Rings umher in der Höhe ist er mit einem steinernen Umgang und daran etliche Ausschlägen, dass man hin und wieder sowohl in die Stadt, als aufs Feld, weit gen den Hombergswald und anderes übersehen kann, umgeben. Er wurde gebraucht als Wachturm. Er ist inwendig fast ein wenig höher, als man auf der Stadtmauer gehen kann, ein steinerner Boden, in dessen Mitte ein rundes durchhöhltes Loch, so mit einem eisernen Röstlein verschlossen, durch dieses ließ man schwere Verbrecher, so etwa um Leib und Leben zu haften hatten, hinunter, die leichteren wurden oben im Turm untergebracht.
Obig der Türe dieses Turmes findet man im steinernen Türgewölbe folgende Inschrift: Anno domini MCCCLXXXVI in die snt. Marci inceptum, das heißt: Im Jahre des Herren 1386 auf den Tag des Heiligen Marcus ist dieses Wer zu bauen angefangen worden.
Nachwort
Der Heilige Leonhard lebte von 500 bis 570 in Frankreich und leitete ein Benediktinerkloster. Gebete an ihn sprengten die Fesseln von Gefangenen. In Bad Tölz gibt es den Leonardi-Ritt, hier bittet man um die Erhaltung der Landschaft und die Befreiung von Beschwernissen. Der Tag des Heiligen ist der 6. November. Vielleicht kann man für unsere Stadt am nächsten 6. November auch einen solchen „Ritt“ versuchen.
Der Gesangverein „Liederkranz-Harmonie“ geht mit seinen „Sängern“ seit 1849 auf den Turm der Walpurgiskirche zum Christkindwiegen. Sie, liebe Sänger, setzen diese Tradition, die damals sicher schon 200 Jahre alt war, in bewährter Weise fort. Das dürfte im nächsten Jahr (2009) ein Grund sein, diese Arbeit besonders zu würdigen. Vielleicht kann man den „Singewein“ um einige Taler erhöhen?
Erstveröffentlichung:
Dittmar, Heinrich, Das Alsfelder „Storksnest“. Ein Alsfelder Abenteuer vor 110 Jahren. Vortrag anlässlich des Christkindwiegens auf dem Turm der Walpurgiskirche im Jahr 2008, in: Monika Hölscher: Alsfelder Geschichte(n). Ein Erinnerungs- und Lesebuch, Alsfeld 2021, S. 200-202.
Anmerkungen
[01] Jäkel, Herbert, Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen der Stadt Alsfeld. Entstehung – Zerstörung – Erhaltung, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 13. Reihe, Nr. 9/10, 1986, S. 129-190.
[02] Vgl. Becker, Eduard Edwin, Die Chorographie von Gilsa und Leußler, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 5. Reihe, Nr. 16, 1922, S. 98-106, hier: S. 99-100.
Kleine Chronologie
1365: Erstmalige urkundliche Erwähnung des Fulder Tors.
1386: Baubeginn / Grundsteinlegung des Leonhardsturms (am 25.04.1386, Sankt Markus)
1621: Urkundlicher Nachweis einer Haspel (Seilwinde zum Heben und Senken von Lasten) im Leonhardsturm.
1809: Abbruch des Fulder Torturms.
1852: Einrüstung des Turms für die Reparatur der schadhaften Stellen der Kuppel.
1859: Kranz des Leonhardsturms wurde hergestellt.
1863: Einrüstung des Leonhardsturms.
1864: Abbruch und neue Mauerung des Turmkegels und Erneuerung des schadhaften Umgangs.
1881/1882: Ausbesserung der Mauer am Leonhardsturm.
1899: Restaurierungsarbeiten am eingerüsteten Leonhardsturm.
1923: Carl Hölscher setzt dem Leonhardsturm ein neues Nest auf.
1986: Der Leonhardsturm: 600 Jahre alt. Vollständige Einrüstung und Restaurierung.
Vertiefungslektüre
Brodhäcker, Karl, Blauer Himmel über Alsfeld. Ein Führer durch die Heimstatt althessischer Bau- und Handwerkskunst, Verlag F. Ehrenklau, Alsfeld 1951, S. 38.
Jäkel, Herbert, Mit der Haspel in den Kerker, in: Oberhessische Zeitung, 02.08.1969.
Rudolf, Michael, On owe eß des Storksnäst droff …, Störche bezogen ihre luftige Villa auf dem Leonhardsturm. Adebar gilt seit alters als Glücksbringer, in: OZ-Extra, 03.05.2001.
Rudolf, Michael, Der Leonhardsturm beim Fulder Tor … Steinerner Zeuge der Befestigungsanlagen Alsfelds. Garant für Autonomie und Verwahrungsort für Verbrecher, in: OZ-Extra, 08.08.2001.
Brodhäcker, Karl, Der Leonhardsturm – Name, Aufgabe und Bedeutung. Letzter Zeuge der mittelalterlichen Stadtbefestigung Alsfelds, in: Heimat-Chronik Alsfeld, 32. Jahrgang, 2016, Heft 5, S. 1-4.
[Erstellt: 01.01.2024]