Die Glocken der Alsfelder Walpurgiskirche und das neue Glockenspiel

Von Heinrich Dittmar, Alsfeld (2006)

Vorab

Erinnerungen an die Heimat machen sich an vielen Dingen fest. Das Elternhaus, ein markanter Berg oder ein Kirchturm, der vielerorts alles überragt. Vor über 50 Jahren verließ ein junger Alsfelder seine Heimatstadt, um zu studieren und dann im Beruf tätig zu sein. Er nahm in seinen Gedanken auch den Blick auf den Kirchturm und den Klang der Glocken der Walpurgiskirche mit. Beides gehörte zum Umfeld seines Heimathauses in der Obergasse und dem Hause seines Großvaters in der Untergasse 10.

Als er nach einem erfolgreichen Berufsleben in seine Heimatstadt zurückkam, hatte er den Klang immer noch im Ohr. Da er mit seiner Arbeit sehr erfolgreich war, dachte er darüber nach, den Klang der Glocken zu erweitern. Seine Überlegung, die er mit der Kirchengemeinde besprach, führte zu der Idee, auf seine Kosten ein Glockenspiel installieren zu lassen.

Glockenspiel, gestiftet von Karlernst Kalkbrenner
Foto © GFA

Nach einer Vorbereitungszeit von einem ¾ Jahr erklangen in der ersten Dezemberwoche erstmals Lieder vom altehrwürdigen Turm. Mit seinen 24 Glocken ist das von der Glocken- und Kunstgießerei Gebrüder Rincker in Sinn erstellte Glockenspiel, das größte im mittleren Hessen.

Unsere Stadt kann sehr stolz sein auf das Geschenk von Karlernst Kalkbrenner (1929-2008) aus der Obergasse. Ihm gebührt auch von dieser Stelle für sein Weihnachtsgeschenk unsere besondere Anerkennung.

Gedenktafel zu Ehren des Stifters Karlernst Kalkbrenner
Foto © GFA

Dieser Turm, die Glockenstube unter uns und die Türmerwohnung, ist für alle, die heute Abend hierher gekommen sind, insbesondere für die Sänger des Vereins Liederkranz-Harmonie, ein wertvolles Stück Heimat an Weihnachten.

Es ist allen zu danken, die mit ihrer Arbeit an den Tagen zuvor und gestern Morgen sich um das Zustandekommen des heimatlichen Brauches bemüht haben. Gedankt sei auch denen, die durch Arbeit und Geld für die Standsicherheit der Christbäume gesorgt haben.

Das Christkindwiegen ist für viele Alsfelder, für Ureinwohner und Neubürger, ein beachtenswertes Stück Heimat. So mag es bleiben.

Heinrich Dittmar im Glockenturm
Foto © Monika Hölscher

Zur Geschichte der Glocken

Die Glocke ist nie „erfunden“ worden – sie hat vielmehr eine lange Vorgeschichte und Entwicklungszeit, über die wir nur lückenhaft unterrichtet sind. Alle Völker der Erde verwendeten akustische Zeichen bei ihren kultischen Handlungen.

Kleine Klangkörper, Schellen und Glöckchen dienten der Gefahrenabwehr, sie galten als Glücksbringer und halfen beim Totenkult. Schon ab 3000 v.Chr. wurden in China Klanginstrumente gefertigt, die man schon zu den Vorfahren der Glocken rechnen kann. Im Alten Testament werden an die zwanzig Musikinstrumente genannt, Glocken sind aber nicht darunter.

Das Christentum stand zunächst den Glocken sehr ablehnend gegenüber. Diese Distanz spricht zum Beispiel aus den Worten des Apostels Paulus im 1. Korintherbrief, Kap. 13, Vers 1: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber der Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ Ein Hinweis, den sich mancher zu Herzen nehmen sollte.

Kleine Hinweisglöckchen fanden im 4./5. Jahrhundert Eingang ins christliche Ritual. Der Heilige Benedikt, der zunächst als Eremit in einer Höhle lebte, empfing seinen mit einem Glöckchen versehen Nahrungskorb, der in seine Höhle hinab gelassen wurde. So ist in seiner Vita zu lesen. In den Zeiten der Christenverfolgung band man zur Erniedrigung Menschen eine Glocke um den Hals und gab sie so der Lächerlichkeit preis.

Im 6. bis 8. Jahrhundert entwickelte man das heutige Glockenherstellungsverfahren. Für Kirchenglocken waren in den Benediktinerklöstern, u.a. Tegernsee, Freising und Kremsmünster und besonders auf der Reichenau, Glockengießer tätig.

Bis ins 16. Jahrhundert erreichte die Glockengießerei eine beachtliche Kunstfertigkeit, die man an der „Gloriosa“ des Erfurter Domes bewundern kann. Diese 1497 von Gerd van Wou gegossene Glocke hat einen Nachklang von über fünf Minuten. Die älteste Glocke in unserer Region, die seit über 900 Jahren läutet, ist die Lullusglocke in Bad Hersfeld.

Glockenführung (2009) mit Heinrich Dittmar
Foto © GFA

Die Glocken unserer Walpurgiskirche entstanden im 14., 16. und 17. Jahrhundert. Unsere älteste Glocke aus dem Jahre 1333 ist die „Mittagsglocke“. Sie hängt in der Ecke zum Rathaus hin. Ihre prächtige Aufschrift lautet: „Anno Domini 1333 fusa est hec campanal“ – Im Jahre des Herrn 1333 ist diese Glocke gegossen worden. Mit dieser Glocke wird auch der Hauptstundenschlag ausgeführt. Zeitweise läutete sie auch beim Vaterunser.

Es folgt die „Sturmglocke“ aus 1545. Sie wurde von Jörg Kleppel aus Grünberg gegossen. Sie wurde sicher auch im Kriegsfall geläutet. Glocken in Gefahrensituationen zu läuten, war früher üblich. Das Läuten bei Gewitter musste einst als Unfug verboten werden. Diese Glocke hängt in der Ecke zum Schwälmer Brunnen.

Die größte Glocke, die „Sonntagsglocke“, hängt in der Mitte der Glockenstube. Sie wurde 1582 in der damals leerstehenden Dreifaltigkeitskirche gegossen. Ein Teil der Akten darüber ist noch erhalten. Die Glocke hat eine prächtige Inschrift und ist mit dem Wappen der Stadt Alsfeld und einer Taube, dem Sinnbild des Heiligen Geistes, verziert.

Als Gießer wird ein „Laux Rucker“ genannt. Rucker und Rincker klingen ähnlich. Vielleicht war es ja ein Vorfahre von Hans Martin Rincker, dem Gießer unseres Glockenspieles. Die Familie Rincker, heute Sinn, taucht um 1590 erstmals als Hersteller von Glocken und Kanonen im Wetzlarer Raum auf.

Die vierte Glocke des Geläutes, die „Gerichtsglocke“, wurde 1617 von Caspar Weber und Blasius Homony gegossen. Sie waren wandernde Glockengießer aus Lothringen und Belgien. Die Inschrift der Glocke lautet: „Siehe, ich Glocke, ertöne nie umsonst. Ich lobe den wahren Gotte, rufe das Volk, versammele die Geistlichkeit.“

Hier möchte ich kurz auf die Glockenspiele eingehen. Um 1660 schufen die Brüder Hemony ein großes Glockenspiel für den Dom in Utrecht. Man kann davon ausgehen, dass unser Homony auch ein Angehöriger der großen belgischen Glockengießerfamilie Hemony war. In der Laterne des Kirchturmes hängen übereinander zwei kleine Glocken aus 1922. Sie schlagen die Viertelstundenschläge und die ersten Stundenschläge, die dann von der Mittagsglocke wiederholt werden.

Im Dachreiter des hohen Chores hängt die „Vaterunserglocke“. Sie soll aus dem Erbauungsjahr 1393 stammen. Sie ist erst wenige Jahre wieder in Betrieb. In 1963 war bei einer Balkenreparatur nicht genau gearbeitet worden. Wegen ständiger Vibration des Daches musste die Glocke still gelegt werden. Viele alte Alsfelder haben noch das Vaterunserläuten mit dem Glockenseil durch die Konfirmanden hinter dem Altar in Erinnerung.

Das Glockenspiel

Eine Sonderform der musikalischen Verwendung der Glocken stellt das Glockenspiel dar. Schon in China soll es solche Glockenanordnungen gegeben haben, die eine melodische Gestaltung der Glockenschläge zuließ. Bei uns ist das Turmglockenspiel aus dem „Vorschlag“ entstanden. Dies war eine feste Tonfolge, eine Art Melodie, mit der die Stundenschläge der Turmuhr auf der Schlagglocke angekündigt wurden. Diese Aufgabe hatte der Türmer zu leisten.

Besonders in den Niederlanden entwickelte man vieltönende Instrumente, die mit einem „Stockklavier“ fast wie mit einem Orgelmanual bedient werden konnten. Teilweise wurden schon Walzenmaschinen eingesetzt. Bedeutende Glockenspiele gibt es in vielen großen Kirchen, Schlössern und Rathäusern. Zum Teil werden auch Figuren zum Spiel der Glocken sichtbar.

In unserer Region gibt es das Glockenspiel in der Hersfelder Stadtkirche (1997 mit 12 Glocken von Rincker erstellt), am Rathaus in Frankenberg, in Marburg an der Thomaskirche, am Museum in Ziegenhain, am Rathaus von Hannoversch Münden und natürlich in Kassel und Frankfurt am Main. Erwähnt sei auch das Glockenspiel des Darmstädter Schlosses.

Die Firma Rincker, die auch unsere Anlage gestaltet hat, goss vor kurzem die Glocken für eine elektronisch gesteuerte Anlage in Remscheid. Hier wird modernste Technik eingesetzt. Die Firma Gebrüder Rincker hat seit 1920 Glocken für über 100 Glockenspiele gegossen. Die Alsfelder Glockenlandschaft ist durch dieses neue Musikinstrument beträchtlich und beachtenswert bereichert worden.

Die drei Glocken der Dreifaltigkeitskirche stammen aus den Jahren 1742 und 1963. Ein Geläute mit besonderer Eigenart und heimlichem Klang.

Das Geläute der Christ-König-Kirche wurde am 21.11.1993 geweiht. Bevor dieses Geläute geplant und gegossen wurde, untersuchten der Glockensachverständige Foersch aus Dillenburg und Hans Martin Rincker aus Sinn alle anderen Alsfelder Glocken, um erst dann das Klangkonzept für die Christ-König-Kirche zu erstellen.

So ist das Alsfelder Stadtgeläute, das am Heiligen Abend und in der Neujahrsnacht zu hören ist, von besonderem Klang. Wir erreichen zwar nicht das Frankfurter Stadtgeläute, wir kommen ihm aber nahe.

Nachbetrachtung

Unser neues Glockenspiel wird vorerst täglich um 12.15 Uhr und um 19.15 Uhr und sonntags zusätzlich um 15.00 Uhr erklingen. Die elektronische Technik hat derzeit 25 Melodien gespeichert. Neben kirchlichen Liedern, die jeweils den kirchlichen Festen entsprechend eingesetzt werden können, sind auch viele bekannte Volkslieder dabei. „Die Gedanken sind frei“, das gilt sicher auch in unserer Stadt. „Wahre Freundschaft“ herrscht aber auch nicht in allen Bereichen Alsfelds. Mit „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“ wollen wir uns zwar nicht mit der Potsdamer Garnisonskirche messen, aber etwas mehr an „preußischen Tugenden“ wäre in einigen Bereichen auch unserer Stadt gut.

Nicht dabei ist „Das Lied der Glocke“ von Friedrich Schiller. Hier wird das Leben in allen Formen beschrieben. Gefürchtet war die Schulaufgabe, das Werk mit seinen rund 30 Versen auswendig zu lernen.

Dass Glocken oft wundersame Wege gehen, wissen wir aus der katholischen Kirche. In der Vor-Osterzeit schweigen sie vor Ort, denn sie sind nach Rom geeilt, um aber pünktlich zum Ostermorgen zurück zu sein. Mit Rasseln rufen in dieser Zeit Kinder zum Gottesdienst, fast wie in der Frühzeit der Kirche, als die Christen durch Schläge an die Tür zum Gottesdienst gerufen wurden. Ähnliches war auch bei bedrängten Judengemeinden im Mittelalter üblich.

Dass die Glocken gelegentlich ihren Ort verlassen, zeigt Goethes Gedicht von der „Wandelnden Glocke“. Ein zum Kirchgang unwilliges Kind wird hier von einer Glocke persönlich zum Kirchgang gerufen.

An dieser Stelle sei auch einmal dankbar vermerkt, dass unser Geläute die Kriegsjahre ohne Verluste überstanden hat. Fast 3000 Denkmalglocken wurden zu Kanonen eingeschmolzen. Seit über 380 Jahren erklingen die Glocken der Walpurgiskirche in gleicher Weise.

Möge unser Glockenspiel, das wir Karlernst Kalkbrenner verdanken, nicht nur dem Tourismus zugewiesen sein, sondern allen Menschen dieser Stadt ein gern gehörter Begleiter sein.

Veröffentlichung:

Heinrich Dittmar, Die Glocken der Alsfelder Kirchen und das Glockenspiel. Vortrag anlässlich des „Christkindwiegens“ auf dem Turm der Walpurgiskirche im Jahr 2006, in: Monika Hölscher: Alsfelder Geschichte(n). Ein Erinnerungs- und Lesebuch, Alsfeld 2021, S. 193-196.

[Stand: 17.04.2024]