Der alte Text des Alsfelder Passionsspiels wäre beinahe zu Tüten verarbeitet worden. Der Breitenbacher Pfarrer Gutberlet erkannte die Bedeutung der Skripturen

Von Dr. Heinz-Lothar Worm, Linden (1993)

Im Jahre 1842 wurde das Alsfelder Rathaus umgebaut. Man fand in dem damals schon altehrwürdigen Haus einige Kisten mit Handschriften, die niemand so recht lesen konnte. Da man keine bessere Verwendung für das Papier hatte, verkaufte man es als Tütenpapier an Kaufleute. Die alten Handschriften wanderten also zu einem jüdischen Händler nach Merzhausen bei Ziegenhain. Zum Glück entdeckte sie dort Pfarrer Gutberlet aus Breitenbach am Herzberg, bevor die Scripturen der Schere zum Opfer gefallen waren. Der Pfarrer kaufte die Handschriften für einen Taler. Sie gingen in den Besitz des Literarhistorikers F.A.C. Vilmar in Marburg über und kamen später aus dessen Nachlass an die Kasseler Landesbibliothek. Es handelte sich um das Manuskript eines Passionsspieles.

Passionsspiele sind bis heute nur noch aus dem alpenländischen Raum bekannt. Im Mittelalter gab es sie auch bei uns. Sie gehören in die Reihe jener geistlichen Spiele, mit denen man seinerzeit das Evangelium, den Inhalt der biblischen Erzählungen, im Volk zu verbreiten bestrebt war. In einer Zeit, in der es für den überwiegenden Teil des Volkes weder Schule noch Buch gab, auch in den Gottesdiensten die Predigten vor der lateinischen Messe in den Hintergrund traten, waren Glasmalereien, Bilder und Schnitzwerk in den Gotteshäusern, festliche Umzüge, Prozessionen und geistliche Spiele ein beliebtes und effektives Mittel, um das schaulustige Volk mit dem Inhalt der biblischen Geschichten und den Heilstatsachen bekannt zu machen. So gab es Weihnachts-, Dreikönigs-, Oster-, Fronleichnams- und Passionsspiele.

Das Alsfelder Passionsspiel geht zurück auf ein Spiel aus Friedberg, das aber nur fragmentarisch erhalten ist und kürzer gewesen sein muss als das Alsfelder Spiel. Die Friedberger Fassung wiederum scheint aus einem Frankfurter Passionsspiel entstanden zu sein, das in den Jahren 1468/1469 bis 1515 einige Male auf dem Römerberg aufgeführt wurde.

„Über die Aufführungen des Alsfelder Spiels gibt eine Notiz auf dem ersten Blatt der jetzt in der Casseler Landesbibliothek befindlichen Handschrift Auskunft, wonach das Spiel im Jahre 1501, in der Woche nach Ostern, hierauf wieder, und zwar mit vielfachen erweiternden Zusätzen, 1511, gleichfalls in der Woche nach Ostern, endlich wieder im Jahre 1517, dem Reformationsjahr, ebenfalls in der Woche nach Ostern, zur Darstellung gekommen ist. In dem zuletzt genannten Jahr musste das Spiel bei der Darstellung der Auferstehung abgebrochen werden, weil Regen und außerordentliche Kälte um 4 Uhr heimzugehen zwangen. Das Spiel erstreckte sich über drei volle Tage.

Die Aufführung fand, wie aus der erwähnten Notiz hervorgeht, unter freiem Himmel, wahrscheinlich auf dem Marktplatz, statt. Die Einrichtung der Bühne wird man sich wohl ganz ähnlich derjenigen von Oberammergau zu denken haben. (Eine Mittelbühne, rechts und links Straßen von Jerusalem mit dem Haus Hannas und Caiphas und dem Palaste des Herodes und Pilatus auf der anderen Seite. Im Vordergrund unter der eigentlichen Bühne die ‚Hölle’, in der die zahlreich auftretenden Teufel sich aufhalten, und in die auch Störenfriede beim Spiel gefangen gesetzt wurden, im Hintergrund aber, etwas höher als die eigentliche Bühne, der ‚Himmel’, in den der auferstandene Heiland aufgenommen wird und von dem aus die auftretenden Engel erscheinen und zurückkehren.)“ (Alsfelder Passionsspiel. Aus dem Mitteldeutschen übertragen von Ernst Freundlieb. Druck und Verlag von C. Rühl, Alsfeld 1920, S.II.)

Ein Ausschnitt aus dem umfangreichen Spiel soll hier im Folgenden in der Übersetzung Freundliebs wiedergegeben werden. Jesus befindet sich auf dem Weg zur Kreuzigung auf dem Kalvarienberg. Die Frauen Jerusalems weinen um ihn.

„[…]

Die erste der Töchter Jerusalems spricht:
O weh! o weh! o wehe mir!
Die zweite spricht:
Sage, was ist, liebe Schwester dir?
Die erste spricht wieder:
Mich jammert Jesus, der gerechte Mann,
Den die Juden nun gefangen han,
Und wollen bringen in den Tod,
Der nicht verdienet hat solche Not.
Gerecht war er zu aller Zeit
Drum geht mir nahe jetzt sein Leid.
Die zweite spricht:
Ach Schwester, ich will mit dir klagen,
Hört ichs doch niemals anders sagen,
Als dass sein milder Sinn allzeit
Der Welt war zu ihrem Besten bereit.
Drum kann auch ich es nicht vermeiden,
Muss Tränen vergießen über seinem Leiden.
Die dritte spricht:
O weh, liebe Schwester, des Jammers, der Qual
Die die Juden ihm antun, jetzt zumal!
Ach besser wär’ ihm, er wär’ bereits tot,
Als dass er durchkosten muss solche Not.
Ach mir im Herzen ist bitter weh
Da ich solchen Jammer und Pein anseh!
Die vierte spricht:
O weh, liebe Schwester, des Jammers, der Not
Gemartert ist Jesus schier fast zum Tod
Und muss doch selber sein Kreuz noch tragen.
O weh des Jammers, o weh der Klagen!
Schier krank ist er von der Martes sein
Mein Herz drum um ihn leidet große Pein.
Darauf wendet sich Jesus nach ihnen um und spricht:
Ihr Töchter von Jerusalem! Nein,
Das Weinen über mich stellt ein!
Ihr sollt über meine Pein nicht klagen,
die ich jetzt muss erleiden und tragen.
Doch weint über euch und euer Kind’,
die noch kommen sollen und die jetzt schon sind.
Denn das will ich fürwahr euch sagen.
Sprechen wird man hier in kurzen Tagen:
‚Selig sind nun die Unfruchtbaren,
Die nie eines Kindes Mutter waren.
Ja, man wird noch sagen vor Jammer und Leid:
‚Fallt über uns, ihr Berge breit.
Und decket uns, ihr tiefen Tal,
Dass wir nicht gewahren den großen Fall‘!
Damit er auf dem Berg Calvarien angelangt.
Der Führer spricht:
Du willst uns gar wohl noch weissagen!
Leg ab! Brauchst jetzt nicht mehr zu tragen.
Das Kreuz auf deinem kranken Nacken.
Ein anderes wollen wir jetzt dir backen,
Dass das Singen und Sagen dir soll vergehen.
Mach dich fertig: Hier ist nichts herumzustehen.

Die Veröffentlichung des Textes im Rahmen des Internetprojekts www.Geschichtsforum-Alsfeld.de
wurde vom Autor genehmigt.

Erstveröffentlichung:

Dr. Heinz-Lothar Worm, Der alte Text des Alsfelder Passionsspiels wäre beinahe zu Tüten verarbeitet worden. Der Breitenbacher Pfarrer Gutberlet erkannte die Bedeutung der Skripturen, in: Heimat im Bild, 1993, Nr. 11, S. 3-4.

[Stand: 03.04.2024]