Von Dr. Richard Froning, Frankfurt am Main (Oktober 1891)
Das oberhessische Alsfeld war im 15. und 16. Jahrhundert eine nicht unbedeutende Stadt. Es lag an der Straße, die Luther auf seinem Wege nach Worms eingeschlagen hat, und diese Straße brachte die Bürgerschaft in Verkehr mit Frankfurt. Von der für geistliche Dramen sehr stark interessierten Mainstadt empfing es die Anregung für dergleichen Aufführungen: die fromme, glaubenseifrige Bürgerschaft – Alsfeld war die erste hessische Stadt, die zur Reformation übertrat (1522) – hat noch am Vorabend des Anbruches der neuen Zeit mit großem Eifer das religiöse Schauspiel gepflegt. Aber sie hat doch wohl nicht erst vom Jahre 1501 ab damit begonnen, dem Jahre, in welchem nach den Nachrichten auf dem ersten Blatte der Handschrift das Passionsspiel derselben zum erstenmale aufgeführt wurde. Wir haben die Notiz offenbar so zu verstehen: das Spiel ist in der uns überlieferten Form damals zum erstenmale dargestellt worden. Dass plötzlich solche umfangreiche, ja großartige Aufführungen durch das Machtwort einer weltlichen oder geistlichen Obrigkeit oder auch durch den persönlichen Einfluss einer hochbegabten Persönlichkeit ins Leben gerufen werden konnten, erscheint wohl undenkbar. Dergleichen erforderte traditionelle Übung. Gewiss gab es in Alsfeld schon längst ebenso eine Bruderschaft, welche sich die Pflege des geistlichen Dramas zur Aufgabe gemacht hatte, wie in dem nicht allzu fernen Friedberg, und sie hat gewiss schon ebenso früh als die dortige ihre eigentümliche Kunst geübt. Wir werden dann auch wohl in dem Spiele, wie es 1501 vorgeführt wurde, nicht das Werk eines einzelnen auf Grund einer ihm vorliegenden Überarbeitung des alten Frankfurter Dramas zu sehen haben, sondern das Werk Mehrerer, vielleicht von Generationen. Und wie dergleichen Schauspiele wuchsen, davon liefert ja gerade die Handschrift des Alsfelder ein treffendes Beispiel; man wird wohl in seiner Aufzeichnung von 1501 eine Zusammenfassung der ursprünglichen Vorlage mit ihren Erweiterungen zu sehen haben, ähnlich wie in dem Frankfurter Spiele von 1493.
In dem Alsfelder Spiele erscheinen der kirchliche, ernste Zweck des Passionsdramas und die Volkstümlichkeit auf das innigste mit einander verbunden. Rituale Sätze durchziehen das Ganze, überwiegen sogar nicht selten den deutschen Text; aber zugleich auch ist der Anschaulichkeit in größtem Maßstabe Rechnung getragen. Die Gebeweise hat nicht selten für unsern Geschmack viel Widerwärtiges; aber das schwindet immer mehr, je liebevoller man sich in die Gefühle versenkt, aus denen die Dichtung entsprungen. Gleichsam der Kitt, der die ritualen Gesänge und die volksgemäßen Ausführungen verbindet, sind die überaus zahlreichen moralischen Betrachtungen, die bei jeder möglichen Gelegenheit den handelnden Personen in den Mund gelegt werden.
Gerade wenn man dieses Spiel neben gleichzeitige Predigten über die Passion hält, so springt eine auffallende Ähnlichkeit beider Teile in Bezug auf Anlage und Zweck in die Augen. Auf beiden Seiten dieselbe volkstümlich gehaltene, gewöhnlich stark realistisch ausgemalte Feststellung des Thatbestandes der heiligen Geschichte in breitem kirchlichem Rahmen, durchmischt mit moralischen Betrachtungen: es war das Drama gleichsam die körperliche Fixierung dessen, was durch das Wort von der Kanzel verkündet wurde. Man geht gewiss nicht fehl, wenn man gerade dieses Passionsspiel eine in dramatische Form umgesetzte unendliche Predigt nennt.
Quelle – Der Text „Die Alsfelder Passion“ von 1891 ist entnommen:
Alwin Michael Rueffer: Die Alsfelder Passion 1517. Ein Marionettenbuch von Alwin Michael Rueffer. Übertragung des mitteldeutschen Textes von Rudolf Hagelstange, Königstein 1978 (ohne Seitenangabe).
[Stand: 27.03.2024]