Von Michael Rudolf, Alsfeld (2015)
Gewerbetreibende präsentieren vor 120 Jahren wirtschaftliche Innovationen und technischen Fortschritt in Alsfeld
Dass Alsfeld 1255 in dem ein Jahr zuvor gegründeten Rheinischen Städtebund als Mitglied erscheint, beweist, dass das Gemeinwesen an der Schwalm in dieser Zeit eine ausgeprägte Stadt im „mittelalterlichen“ Sinne gewesen sein und sie über eine adäquate Wirtschaftskraft samt ihres Umlandes verfügt haben muss. In den nachfolgenden Jahrzehnten beziehungsweise Jahrhunderten ist die städtische Entwicklung von zahlreichen wirtschaftlichen Blüten mit dem überwiegenden Wohlstand der Menschen in Stadt und Land geprägt, aber auch von Not, Elend und bitterer Armut charakterisiert, welche die Einwohner der hiesigen Region hart prüften. Die Ursachen für den Wohlstand sind schnell gefunden und resultierten aus den friedliebenden Zeiten, in denen Handel, Handwerk, allerlei Gewerbe und auch die Landwirtschaft aufblühten. Der Krieg hingegen, der nicht selten durch konstruierte Feindseligkeit, Rach- und Habsucht ausgelöst wurde, brachte die Zerstörung der Infrastruktur, den Hunger und die Seuchen, was das Ende der wirtschaftlichen Prosperität und die Vereinsamung wie Verödung weiter Landstriche bedeutete.
Für den Vogelsberg und die Schwalm ist nicht zu bestreiten, dass die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs noch bis ins 19. Jahrhundert zu verspüren waren. Doch mit der Industrialisierung, der Beseitigung von Zunft- und Zollschranken, der Vereinheitlichung von Maß, Münze und Gewicht, der Bildung des Deutschen Zollvereins als wirtschaftlichem Wegbereiter der späteren politischen Einheit, der Hinwendung zum Liberalismus und vielem mehr veränderten sich nicht nur Politik, sondern ergriffen Technik, Wissenschaft und Wirtschaft die Möglichkeiten der Zeit und schritten unaufhaltsam in die Moderne voran.
Der Alsfelder Karl Dieffenbach (1763-1822), Gründer der Erlen, Herausgeber eines Intelligenzblattes, Syndikus und Verfasser einer Ortsgeschichte, wies darin bereits 1817 auf den hohen Leistungsstand des Alsfelder Gewerbes, des Handels und den technischen Fortschritt der frühen örtlichen Industrie hin. Seine Publikation und die Intention, die städtische Wirtschaft zu charakterisieren und ihr Niveau zu betonen, verwundert insofern nicht, als spätestens am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein bis heute anhaltender Prozess einsetzte, der die ökonomischen Errungenschaften und den technischen Fortschritt „zur Schau stellte“. Neben den Bestrebungen in der Landwirtschaft waren für die Industrie „Anschauungsmöglichkeiten in Ausstellungen und Museen von großer Bedeutung für die Entwicklung technisch-industriellen Könnens und Wollens“ (W. Treue, Band 17, S. 116). Nach der ersten Industrieausstellung auf europäischem Boden 1791 in Prag, der auf deutschem Boden durch Napoleon I. im Großherzogtum Berg 1811 stattfindenden, verschiedenen Ausstellungen in Bayern, Leipzig oder Frankfurt und in zahlreichen anderen Orten folgten die Gewerbe- und Industrieausstellungen der Länder und der Regionen (ebd.).
1895 fand in Alsfeld die „Oberhessische Gewerbe- und Industrie-Ausstellung“ vom 25. August bis zum 15. September statt. Das Ausstellungsgelände befand sich zwischen Lutherstraße und „Grubegarten“. Herbert Jäkel hat bereits herausgestellt („Alsfeld“, 1992, S. 69 und „Alsfeld im 19. Jahrhundert“, 1984, S. 33), dass dem Antrag des 1862 gegründeten Ortsgewerbevereins Alsfeld, die Hauptversammlung des Landesgewerbevereins 1895 in Verbindung mit einer Gewerbeausstellung in der Stadt an der Schwalm durchzuführen, stattgegeben worden sei, so dass dem weit über die Grenzen des Ortes hinaus beworbenen Ereignisses zahlreiche Interessierte aus nah und fern gefolgt waren. Eingebettet in die obigen Ausführungen, stellte die „Gewerbe- und Industrie-Ausstellung“ in Alsfeld nicht nur die Leistungsfähigkeit der oberhessischen Industrie dar, sondern zeigte überdies den Fleiß, die Tatkraft und das hohe Können des heimischen Handwerks. Über 180 Aussteller präsentierten sich auf dem Gelände der Lutherstraße, wo in mehreren Hallen und Pavillons den Besuchern Bewährtes und Fortschrittliches offeriert und zur Nutzung empfohlen wurde. Die seltene Postkarte aus der Sammlung Andreas Lenths gibt einen Einblick in die aufwändige Konstruktion der Bauten und die ästhetische Gestaltung des Geländes, auf dem sich neben den zum Studium einladenden Hallen und den zum Austausch wie zum Verweilen errichteten Pavillons ein zum Flanieren und Kommunizieren geschaffener Park mit elektrischer Beleuchtung sowie eine fünf Meter hohe Fontäne, die auf die Verbindung von Natur und Technik hinwies, befanden. Die einbezogene ehemalige Realschule, die fast dreißig Gewerbegruppen, die „offene“ Halle mit ihrer Kapazität von vierhundert Sitzplätzen, die, wie berichtet wird, für die vielen Besucher und deren Bewirtung nicht ausreichten, zeugen von der Größe der Veranstaltung. Der bedeutendste Besucher der Ausstellung war der am 29. August 1895 anwesende Großherzog Ernst Ludwig von Hessen, der, von den Honoratioren empfangen, sowohl das auf der Postkarte zu sehende Gelände betrat als auch durch die dort gezeigten Hallen und Pavillons schritt. Die Postkartengrüße von der Gewerbe- und Industrie-Ausstellung waren ohne Zweifel eindrücklich, legte diese doch einen der Grundsteine für Ausstellungen und Messen in Alsfeld, die die Wirtschaftskraft der Region bis zum heutigen Tage zeigen.
Literatur:
Ausgaben der Oberhessischen Zeitung
W. Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Gebhardt, Handbuch der Geschichte, Band 17, Stuttgart (9)1989.
Herbert Jäkel, Alsfeld im 19. Jahrhundert, Alsfeld 1984; Ders., Alsfeld, Horb am Neckar, 1992.
Erstveröffentlichung:
Michael Rudolf, Postkartengrüße von der „Oberhessischen Gewerbe- und Industrie-Ausstellung“ 1895. Gewerbetreibende präsentierten vor 120 Jahren wirtschaftliche Innovationen und technischen Fortschritt in Alsfeld, in: OZ-Extra, 25.11.2015.
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde von ihm genehmigt. Vielen Dank!
[Stand: 04.06.2024]