Das älteste Alsfelder Siegel und seine Verwandtschaft

Von Dr. Hans Joachim von Brockhusen, Marburg (1962)

In unseren Tagen ist neuerlich das „+ S(IGILLVM) SCVLTETI ET BVRIGE(N)SIV(N) I(N) ALSFELT“ (Siegel des Schultheißen und der Bürger in Alsfeld), dessen Originalstempel glücklicherweise erhalten geblieben ist, nach einem Abguss als vergoldeter Anhänger für die Amtskette des Bürgermeisters verwandt worden. So knüpft die alte Hessenstadt unmittelbar an früheste Überlieferung an [01].

Schon 1222 wird ein „Sifridus scabinus de Adelsfelt“ erwähnt; doch nennt er sich nur nach seiner Heimat Alsfeld und ist selbst Urkundenzeuge als Schöffe in Grünberg. 1231 erscheinen dann tatsächlich die Bürger von Alsfeld, und von diesem Zeitpunkt an könnte mit einem öffentlichen Siegel gerechnet werden das zunächst der Schultheiß als Vertreter der landgräflichen Herrschaft geführt haben mag.

Wie in Grünberg seit 1222 und in Kassel ab 1235, wird der Stempel zunächst einfach den bunt gestreiften, thüringisch-hessischen Löwen geprägt haben. Genannt wird ein Siegel ausdrücklich 1248 in einer Urkunde des Klosters Immichenhain; es ist jedoch abgefallen, und nur ein kleiner Rest blau-weißer Schnur, an der es einst hing, bezeichnet die Stelle. Sicherheit über das Aussehen gewinnen wir erst aus einer Urkunde für das gleiche Kloster, datiert vom 14.12.1257, die das heute noch wohlbekannte Siegel trägt. Es zeigt ein typisches Richterbild, ähnlich einigen Mustern, die auf hessischem Boden besonders für Münzen nachgewiesen sind. Einzig Battenberg hat später ab 1278 seinen Grafen neben dem Erzbischof von Mainz und Wetter, seit 1280 den Landgrafen neben dem gleichen Kirchenfürsten im Siegel als Richter sitzend, eben ein Mittel, um jeweils den weltlichen Oberen der beiden zweiherrischen Städte eindeutig zu kennzeichnen.

Für den Typus des einzeln dargestellten Richters seien nur drei Beispiele angeführt, in deren Kreis auch Alsfeld einzuordnen wäre. Da ist zunächst Graf Egino IV., der Bärtige, von Urbach, Stammvater der jetzigen Fürsten von Fürstenberg, Landgrafen auf der Baar zu Donaueschingen im Schwarzwald, 1228 (Abb. 16/1) [02]. In charakteristischer Haltung, mit der Linken seinen Bart fassend und das linke Bein über das rechte schlagend, sitzt er auf einem Faltstuhl mit Drachenköpfen. Es folgt Pribislaw Fürst von Wenden, Herr zu Richenberg, aus dem Hause Mecklenburg, der 1249 siegelt (Abb. 16/2) [03]. Er vereinigt auf  ungewöhnliche Weise das von den Königen her bekannte Majestätsbild mit dem Motiv des Richters, indem er einerseits auf einer regelrechten Thronbank mit reich geschnitzter Rückenlehne und Fußbrett dargestellt ist, andererseits jedoch das blanke Schwert quer über den Knien mit der Rechten fasst und die Linke erhebt, um seinen Spruch zu künden, während er die Beine gleichmäßig gekreuzt hat. Der Dritte im Bunde ist der Graf von Waldeck im Siegel seiner Stadt Freienhagen 1253 (Abb. 16/3) [04]. Er gebraucht wieder den drachenköpfigen Klappsitz, schwingt mit der Rechten das Schwert und hebt mit der Linken als Hoheitszeichen den Stern aus seinem Wappen empor. Alle drei Herren sind barhaupt und tragen Mäntel auf den Schultern nach damals geltender Vorschrift, genau wie es auf dem Alsfelder Siegel zu sehen ist, auf das wir später einzugehen haben.

Abb. 19: Siegel Kaiser Friedrichs II.,1226

Auch königliche Stempel sind mehr oder weniger in diesem Zusammenhang heranzuziehen; denn ein Thronbildnis Kaiser Friedrichs II. aus dem Stauferhaus, das von 1226 bis 1250 belegt ist (Abb. 19) [05], hat offenbar der gleiche italienische Künstler sich zum Muster genommen, als er im Auftrag des dem Herrscher befreundeten Landgrafen Konrad von Thüringen dessen prachtvolles, doppelsichtiges Münzsiegel schuf. Auf der Vorderseite ist das damals verbreitete Motiv des gerüsteten Landgrafen mit Schild und Fahne hoch zu Ross, während die uns interessierende Rückseite für Thüringen-Hessen ganz einmalig und – abgesehen gerade vom Alsfelder Stadtsiegel – nie mehr wiederholt worden ist. Konrad von Thüringen, Schwager der heiligen Elisabeth und Statthalter seines regieren den Bruders Heinrich IV. Raspe in Hessen, hat sich den großartigen Doppelstempel eigens schneiden lassen um 1233/1234 rasch noch einmal im Glanz weltlicher Macht einige wichtige Urkunden damit beglaubigen zu lassen, bevor er am 18. November 1234 als schlichter Bruder in den Deutschen Orden eintrat und dort, wo er 1239 schließlich zum Hochmeister erwählt wurde, sich zum Zeichen demütigen Verzichtes die Szene der Bekehrung Pauli für sein geistliches Siegel nahm.

Abb. 17: Rücksiegel des Landgrafen Konrad von Thüringen

Ähnlich dem oben schon erwähnten Pribislaw von Wenden [06] sitzt Konrad in unserem Fall auf dem sonst fast ausschließlich nur Königen vorbehaltenen Thronsessel mit verzierter Lehne und Fußbank, hält in der Rechten das hochrechteckige Banner [07] mit dem Löwen und in der Linken, die er auf den Schild stützt, das Szepter. Sein Obergewand ist gleichsam schräg kariert durch sich kreuzende Doppelfäden, deren Schnittpunkte und Zwischenräume mit Rosetten geschmückt sind (Abb. 17) [08].

Abb. 18: Siegel des Gegenkönigs Heinrich Raspe, 1246

Erst als sein jüngerer Bruder Konrad, der unentwegt treu dem Stauferkaiser Friedrich II. zur Seite stand und ihn mit dem Papst zu versöhnen suchte, 1241 gestorben war, hat sich Landgraf Heinrich Raspe bewegen lassen, als kurz lebiger „Pfaffenkönig“ gegen Friedrich aufzutreten. Sein Thronsiegel zeigt 1246 genau wie ein kleineres dieser Art, die im Gegensatz zu seinem Bruder ziemlich derben Züge des Usurpators mit vorquellenden Augen, wulstigen Lippen und knolliger Nase (Abb. 18) [09]. Wenn man im 13. Jahrhundert zwar von einer echten Porträtkunst noch ziemlich entfernt war, so kann man doch beobachten, dass die Siegelstecher, die Gewand und Beiwerk oft recht plastisch herausarbeiteten, auch beim Antlitz immerhin den Typus der betreffenden Persönlichkeit anschaulich darzustellen wussten, und eben dieser „Gesichtspunkt“ – in doppeltem Sinn! – ist nicht unwesentlich für die Beurteilung des ältesten Stadtsiegels von Alsfeld, dem wir uns jetzt endlich zuwenden können.

Dass bei Alsfeld trotz freier Behandlung der Einzelheiten das Siegel Landgraf Konrads Pate gestanden hat, ist der wissenschaftlichen Forschung längst klar, und die örtliche Meinung, der dargestellte Landgraf sei Heinrich I., das Kind von Hessen, wird schon dadurch widerlegt, dass dieser Fürst ja erst seit 1264, also lange nach dem ersten Abdruck des Siegels, regierte. Sogar einen doppelten Zierkreis in der Fläche hinter den Figuren bei Konrad hat der Künstler auch bei Alsfeld zur Raumfüllung wiederholt, vor allem den Löwenschild, die Fußbank und das Gewandmuster, während er die dreilätzige Heerfahne der hier nicht abgebildeten – Vorderseite des Landgrafensiegels entnommen hat bei nur leicht verändertem Muster. Deutlich sind auf dem eigentlichen Fahnentuch die (rot-weißen) Streifen [10] und auf den drei abfliegenden Bändern nochmals die Rosen zu erkennen, die wahrscheinlich auch sonst als thüringisch-hessisches Kennzeichen dienten [11]. Im Gegensatz zu Konrads Porträt hat nun der Alsfelder Landgraf in der Rechten statt des Banners das blanke Schwert auf das Knie gestemmt, während die Linke hinter dem Schild die eben beschriebene Fahne, Symbol des militärischen Oberbefehls, ergreift [12]. Der prächtige Thron ist sinngemäß durch die einfache Richterbank ohne Lehne ersetzt. Dafür trägt der Fürst einen Mantel wie die drei zu Anfang geschilderten Beispiele. So sehen wir das Alsfelder Siegel unter seine „Verwandten“ eingeordnet (Abb. 20) [13].

Abb. 20: Alsfeld, großes Stadtsiegel

Was wir gehört haben, lässt die Vermutung zu, dass Landgraf Konrad selbst irgendwie engere Beziehungen zu der Stadt Alsfeld hatte, von denen uns bedauerlicherweise gar keine urkundliche Nachricht überliefert ist. Wie hätte der Siegelstecher sonst den nur ganz selten benutzten Stempel Konrads als Vorlage verwenden können? Einerseits ist das zu jener Zeit um 1233/1234 allermodernste Bildnis eines Landgrafen für Alsfeld sogleich übernommen, andererseits aber schon im Hinblick auf Konrads Rücktritt vom Statthalteramt in Hessen der Kopf seines Bruders Heinrich Raspe eingefügt worden, ein geschicktes Anpassen an den politischen Wandel.

Anmerkungen

[01] Karl E. Demandt und O. Renkhoff, Hessisches Ortswappenbuch (= Hessisches Wappenbuch, Doppel-Band 1 und 2) 1956, S. 67, Nr. 161, wo leider beim späteren Wappen die Angabe fehlt, seit wann das Schwert erstmals zu dem Löwen in den Schild selbst aufgenommen worden ist, nachdem es lange frei daneben gestanden hatte. – Hans Joachim von Brockhusen, Zum Siegel und Wappen von Stadt und Kreis Alsfeld, in: Oberhessische Zeitung, Aus Stadt und Land, Alsfeld, 19.02.1955.

[02] S. Riezler, Geschichte des Fürstlichen Hauses Fürstenberg und seiner Ahnen bis zum Jahre 1509, 1883, S. 45, Abb.

[03] Mecklenburgisches Urkundenbuch I, 1863, Nr. 633, Abb.

[04] Hans Joachim von Brockhusen, Siegel und Wappen der Stadt Freienhagen, in: Geschichtsblätter für Waldeck, 45. Band, 1953, S. 30 ff., wo auf Alsfeld verwiesen ist (S. 32).

[05] O. Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, 1909, Tafel 29, Abb. 3.

[06] Vgl. oben zu Anm. [03].

[07] Diese Form, Längsseite des Tuches nach der Stange, Schmalseite fliegend, auch bei leichtem Luftzug bewegt, war vom 12. bis zum 15. Jahrhundert beliebt und ist in moderner Zeit als zweckmäßig beim Beflaggen von Städten wieder aufgegriffen worden.

[08] O. Posse, Die Siegel der Wettiner bis 1324 und der Landgrafen von Thüringen bis 1247, 1888, Tafel 13, Abb. 4. – Vgl. F. Philippi, Siegel, 1914, Tafel 4, Abb. 11. – Ungenaue und verniedlichte Nachzeichnung des 18. Jahrhunderts in: Staatsarchiv Marburg, Urkundenabschriften, 14. Ziegenhain, zum Vertrag von 1233. – Sehr dürftige Nachzeichnung, bei der das Szepter fehlt, in: G.A. Seyler, Geschichte der Siegel, 1894, S. 258, Fig. 206.

[09] O. Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, 1909, Tafel 34, Abb. 5. – Vgl. dazu Abb. 4.

[10] Entgegen anderen Formen geht bei diesem „gonfalon“ die Mittelachse nicht parallel, sondern senkrecht zur Stange, so dass alle Bilder um 90° gedreht erscheinen, Tiere stets den Kopf zur Stange wenden und scheinbar quer stehen, Balken aber wie Pfähle wirken.

[11] Hans Joachim von Brockhusen, Zur Deutung von Elisabeths „Rosenwunder“, in: Oberhessische Presse, Elisabeth-Beilage, Marburg, 19.11.1957 (dazu irreführende Überschrift „Unter dem Zauber der Rosen“ von anderer Hand eingefügt und am Ende des drittletzten Absatzes die Pointe gestrichen: „Die ganze Szenerie wird nun in den freien Zwischenräumen von insgesamt 9 Kleeblättern und 3 Röslein ausgefüllt, für die in dem hier nur kleinen Wappen neben dem Doppelkreuz kein Platz mehr zu finden war“).

[12] Als Erben der Grafschaft Gleiberg führen z.B. die Pfalzgrafen von Tübingen-Asperg zu Gießen das Schrägkreuz in einer solchen Fahne, die Edelherren von Merenberg das gleiche Zeichen jedoch nur im hochrechteckigen Banner, da ihnen keine Kommandogewalt über das Landesaufgebot (Heerbann) zusteht. Dabei ist besonders zu beachten, dass diese Fahnen mit Bändern und ebenso die Banner durchweg laut Siegeln an kurzen Stäben von 1 bis 1,20 Meter Länge den Anführern offenbar nur zum Signalisieren für ihre Abteilungen, nicht jedoch als Lanze für den Kampf dienten. Bei Ansicht z.B. der Reiter von rechts bemerkt man immer wieder, dass die Stäbe mit dem Handgriff enden. Es ist also keine Rücksicht auf den beschränkten Raum der Siegel- oder Wappenfläche. Moderne Wappen wie z.B. das von Grünberg oder das von Marburg nach Emil Döpler mit dem Lanzenschaft bis unter den Pferdeleib sind missverstanden (vgl. Hans Joachim von Brockhusen, Siegel und Wappen der Stadt Marburg, Schluss, in: Aus der Vergangenheit unserer Heimat, Geschichts-Beilage der Marburger Presse, 28.09.1949, S. 2).

[13] Aufnahme von Herrn Ehrenklau, Alsfeld, nach Abdruck des Originalstempels. – Vgl. F. Philippi, Siegel, 1914, Tafel 7, Abb. 13. – Kümmerliche Nachzeichnung in: G. A. Seyler, Geschichte der Siegel, 1894, S. 343, Fig. 355. – Die moderne Nachzeichnung für den Alsfelder Geschichtsverein (auf den Mitteilungen, bei E. Becker, Bürgerlisten der Stadt Alsfeld, 1907, im Führer durch Alsfeld, 1922, S. 23 usw.) ist verniedlicht und in den Abmessungen verändert, das Schwert locker, schräg gehalten, der Schild zu groß, die Fahne zu klein, das Gesicht zu sanft und schmal.

Abb. 13: Verniedlichende Nachzeichnung
aus: Becker, Eduard Edwin, Bürgerlisten der Stadt Alsfeld, hrsg. im Selbstverlag des „Historischer Verein für das Großherzogtum Hessen“, Darmstadt 1907.

Erstveröffentlichung:

Hans Joachim von Brockhusen: Das älteste Alsfelder Siegel und seine Verwandtschaft, in: Hessische Heimat, 12. Jahrgang, 1962, Heft 5/6, S. 19-21.

(Frau Dr. Irene Ewinkel, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Kultur- und Denkmalpflege, Hessischer Heimatbund e.V., Geschäftsstelle: Michelbacher Str. 34a, D-35041 Marburg, hat die Veröffentlichung des von Brockhusen-Textes auf www.Geschichtsforum-Alsfeld.de gestattet. Herzlichen Dank!)

[Stand: 25.03.2024]