Das Alsfelder Missale

Von Pastor Dr. Bruno Jordahn, Hamburg-Altona (1962)

Vorbemerkung

Während eines Besuches bei meinen Verwandten, Dr. med. Eckbert Kühl und dessen Frau in Röllshausen, fuhren wir nach Alsfeld, um diese schöne kleine Stadt zu besichtigen. Dabei wurden wir von Herrn Rektor i.R. Dönges durch die Räume des Rathauses und der Walpurgiskirche geführt. Im Verlauf der Führung erzählte Herr Dönges, dass im Museum ein „liturgisches Buch“ vorhanden sei. Da ich in jenen Monaten mit einer Abhandlung über Luthers Taufbüchlein beschäftigt war und erfuhr, dass in Alsfeld eine Congregation der Augustiner-Eremiten bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts bestanden hatte, war ich an der Handschrift naturgemäß sehr interessiert. Ich habe dann das Buch genau untersucht, wobei mich in rührender Weise Herr Dönges und Herr Schulrat a.D. Rausch unterstützt haben, wofür ich schon hier meinen herzlichsten und tiefempfundenen Dank aussprechen möchte.

Stadtmuseum Alsfeld, Spätgotisches Messbuch,
Darstellung der Kreuzigung (Abb. Sammlung Helmut Seibel)

Je länger ich mich mit der Materie beschäftigt habe, desto mehr erkannte ich, dass es sich um einen besonderen Fund handelt, der für die Liturgiegeschichte im weitesten Sinne bedeutend ist, da das Missale sicher unter vielen anderen Missalien [Seite 17] der Zeit unmittelbar vor der Reformation und des Tridentinums eines ist, das bestimmte Probleme für die Erforschung der Geschichte der Messe im germanischen Raum aufwirft und auf seine Weise beantwortet. Im folgenden kann nur ganz allgemein über das Missale selbst und über die sich aus der Handschrift ergebenden liturgiegeschichtlichen Fragen, die weit über den hessischen Raum hinausgreifen, berichtet werden. Eine bis ins Einzelne gehende Untersuchung stellt der Schreiber dieses Aufsatzes in Bälde in Aussicht.

Beschreibung

a) Bei dem im Museum in Alsfeld befindlichen handgeschriebenen Missale handelt es sich um einen stattlichen Band mit folgenden Maßen: 44,7 (42,3 cm hoch, 33 (31,5) cm breit, 11,5 (8,5) cm tief. Das Buch ist in Schweinsleder eingebunden und mit einem Wildlederbezug (dieser offenbar aus späterer Zeit stammend) versehen. Die Blätter sind ausnahmslos aus Pergament. Die Schrift ist sehr deutlich, im Kanon Missae fast doppelt so groß wie in den übrigen Teilen. Die Initialen sind besonders reichausgestaltet und bei den wichtigsten Abschnitten mit echtem Blattgold verziert. Beim Beginn des Kanon Missae steht ein besonders reich ausgestaltetes Bild mit der Kreuzigungsszene.

Stadtmuseum Alsfeld, Spätgotisches Messbuch,
Textseite (Abb. Sammlung Helmut Seibel)

Außer dem eigentlichen Messtext enthält das Missale noch eine Reihe handschriftlicher Zusätze. In dem Archiv des Museums ist die Urkunde für die Herstellung des Missale gefunden worden. Ihre Entzifferung machte einige Schwierigkeiten. Jedoch hat sich das im „Führer durch Alsfeld“ 1922 S. 28 angegebene Datum von 1422 bestätigt. Ob allerdings die Anregung durch den Priester Curt Schrecksbach auf das Augustinerkloster hinweist, wird durch die Urkunde selbst nicht bestätigt. Hier bedarf es noch besonderer Untersuchungen, die sich auf Kalendarium und Proprium (die einzelnen Texte der Messeformulare) zu beziehen haben. Als Hypothese sei folgendes gestattet zu behaupten. Am Ende des „Commune sanctorum“ befindet sich ein Formular für eine Messe für die 14 Heiligen. Die 14 Heiligen sind aber im Kalendarium nicht erwähnt, wie auch das Missale Romanum sie nicht kennt. Adalbert Ebner bringt in seinem „Missale Romanum Iter Italicum“ Freiburg 1896 S. 251 einen Auszug aus einem Missale aus Deutschland, „geschrieben von Fr. H. Bomkirch fr. S. Augustini“, in dem es heißt: „Missa de XVcim adiutoribus pro quacunque tribulacione dicenda, 1466 …“. Der Kult ist schon im 13. Jahrhundert nachweisbar. Sie sind aber erst am 28.6. und 1.7.1446 erschienen. 1448 wurde gegenüber Schloss Banz eine Kapelle zu ihren Ehren erbaut. Die spätere Eintragung in das Missale besagt, dass [Seite 18] sie erst nach 1450 erfolgt sein kann. Im Kalendarium ist am 20. Mai handschriftlich „Bernhardini ex Siena“ nicht in Minuskelschrift eingetragen, also nachgetragen worden. Bernhard ist 1450 heilig gesprochen. Das bedeutet, dass alles andere früher geschrieben sein muss. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Hl. Walpurgis, der doch die Kirche in Alsfeld gewidmet ist, im Kalendarium gar nicht erscheint, sondern nur im Proprium, was so viel heißt, dass es später nachgetragen wurde. – Die Hl. Katharina wird dagegen im Kalendarium sowie auch im Proprium erwähnt, wobei im Kalendarium die Verzeichnung in roter Farbe erfolgt, was immer darauf schließen lässt, dass man ihr besondere Würde beilegt. Dieses wird dadurch bestätigt, dass das Missale für einen Altaristen (Messpriester, der keinen Seelsorgebezirk hatte) in der Stiftungsurkunde bestimmt ist und die Urkunde den Tag St. Katharinae als Tag der Beurkundung bezeichnet. Dass das Ganze von Mönchen geschrieben ist, versteht sich von selbst. Wer sollte auch sonst ein solches Buch schreiben! – Am Schluss des Textes findet sich die Eintragung: Finitus est liber iste Anno millesimo quingentesimo primo tertia post Laetare. Es ist fast unwahrscheinlich, kann aber durch die Quelle selbst nicht bestritten werden, dass man an diesem Missale von 1422 bis 1501 gearbeitet hat. Schließlich sei noch bemerkt, dass das Kalendarium das ganze Jahr umfasst, während das Proprium (und das ist der Grundstock des AM) nur die Zeit von Ostern bis zum letzten Sonntag vor Advent enthält.

b) Auf der Innenseite des vorderen Deckels findet sich oben folgende Eintragung:
„Humanarum rerum nihil firmum adque perpetuum“.
Auf derselben Seite steht unten eine Notiz, die Anweisung für den Gebrauch des Credo gibt.
Auf der Rückseite des ersten Blattes steht folgendes mit der Hand geschrieben:

– a) Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Hinter jedem Wort steht ein kurzes Gebet oder besser Gebetsseufzer.

– b) Links oben steht der Satz:

„Da michi domine sensum rectum et vocem puram, ut debite possum adimplere laudem tuam“.

– c) Nach den sieben Worten Jesu am Kreuz findet sich die Eintragung:

„Subsequentes indulgentes concessit Innosentius pp vicesimus secundus item viginti dies genus fluxentibus quando dicuntur nomina.“

Diese Eintragung ist insofern unverständlich, als es zu jener Zeit einen Papst Innozenz XXII gar nicht gab. Der Innozenz, der für die Zeit unseres Missale in Frage kommt, regierte von 1484-1492 und nannte sich I. VIII. Man kann sich unsere handschriftliche Eintragung nur als Schreibfehler erklären. Da die handschriftlichen Zusätze sowieso erst spät (also unmittelbar vor oder in nächster Nähe zu der Jahrhundertwende erfolgt sein können).

Es folgt Johannes 1 Vers 1-14 in Schönschrift. Im Anschluss daran:
„Ostende nobis domine misericordiam tuam“, et „Sit nomen domini et gloriosae virginis Mariae benedictum“. „Deus dabit benignitatem“. „Et terra nostra dabit fructum suum“. Vel: „Te Domine sancte pater omnipotens etrne deus suppliciter deprecamur ut misericordia tua nobis concedat messium copiam et fructum largitatem tribuat. Vinearum quoque substantiam arborum foetus proventus omnium rerum. Itaque ab his omnibus pestiferum sydus tempestatis universas procellas, frigora et grandines tua pietate ammovere digneris. Per christum dominum nostrum.“
Es handelt sich um einen Wettersegen, der mit kleinen Abweichungen heute noch in der Diözese Fulda gebetet wird. Dass der Weinstock erwähnt wird, weist darauf hin, dass der Missale von Mainz, zu dessen Diözese Alsfeld ja gehörte, oder von Süddeutschland (die vierzehn Heiligen!) beeinflusst ist.

Das Kalendarium

Je zwei Monate stehen auf einer Seite. – Unter den einzelnen Monaten sind die Nacht- und Tagesstunden verzeichnet, also: Januar „Dies habet horas 8. Nov 16.“ „Februar: 10–14.“ März 12–12 usw.
Eine Besonderheit im Kalendarium: Am 20. Mai steht die später handschriftlich vorgenommene Eintragung: Bernhardini ex Siena.

Lesungen

Auf zwei Seiten sind die Bücher für die Lesungen in rot und blau angegeben. Nach den Lesungen steht folgende Bemerkung: „Sequitur Missale estivale de tempore et de Sanctis. A festo pasche usque ad Adventum domini. In Die Sancto pasche. Ad missam introitus.

Es folgt:
Das Proprium de tempore

Es handelt sich dabei um die wechselnden Stücke in der Messe und zwar von Ostern bis zum letzten Sonntag nach Trinitatis. Schlussbemerkung:
„Conclusio misse ab octava corporis christi usque ad adventum domini. Erit dominicalibus diebus. Ite missa est. Ferialibus vero diebus. Benedicamus domino.“
Intonationen zum Kyrie, Gloria, Ite resp. Benedicamus und Requiem aeternam.
Im Anschluss an das Proprium de tempore werden die Intonationen zum Kyrie, Gloria, Ite resp. Benedicamus und Requiem angeboten und zwar mit Noten. Dabei sind 12 Unterscheidungen gemacht. Bisher ist nur Kyrie, Gloria und Ite missa est erwähnt. Erst beim (dominicale) sind vier verschiedene Ausführungen des Benedicamus domini verzeichnet sowie ein „Requiescant in pace“.

Gloria

Das Gloria ist mit Noten versehen ausgeführt und zwar in einer zweifachen Form.
a) Das gewöhnliche Gloria.
b) Ein tropiertes Gloria mit Einschub „De beata maria virgine“.

Credo

Auch hier sind die Intonationen mit Noten angeboten und zwar in zwei verschiedenen Formen.

Rubrik nach dem Credo

„Post offertium. Signa calicem dicens“.
Das Offortium hat gegenüber dem Missale Romanum einen leicht veränderten Text.
Es folgen die Präfationstexte und zwar in neun verschiedenen Ausführungen. Die musikalische Gestaltung bietet drei Möglichkeiten.

a) Solemniter
b) Dupliciter tempore …
c) Dominicaliter.

Vor dem Canon stehen die Texte für „In die sancto [Seite19] Pasche et deinceps usque ad sabbatum in albis inclusive Infra actiones:
– Communicantes
– Hanc igitur.
Ascensiones hoc die tantum
– Communicantes
Nach „Marie genetricis …“ „Sed et beatum apostolum etc. ut in canone“.
Penthecostes usque sabbatum inclusive Communicantes.
„In primis glosae semper etc.“ ut in canone.
Post prefacionem sequitur Angelicus Hymnus.
– Sanctus
– Benedictus.
Beides mit Noten.

Der Kanon

Folgende Besonderheiten sind festzustellen:
Die Initialen zu den einzelnen Texten sind reich vergoldet. Die Texte selbst zeigen einige, jedoch nur geringfügige Abweichungen vom Missale Romanum auf.

Commune Sanctorum

Es handelt sich hierbei um 55 Formulare, auf denen besonders die beiden letzten, wohl angehängten Formulare Beachtung verdienen. Es handelt sich hier um das Formular für eine Messe für St. Goar. Das ist insofern verwunderlich, als das Proprium am 6. Juli ein Messeformular für St. Goar verzeichnet.
Auf der letzten Seite im unmittelbaren Anschluss an das Formular LIV:
„Finitus est liber iste Anno millesimo Quingentesimo primo tertia post Letare.“
Es folgen zwei leere Blätter.
Dann, auf dem darauffolgenden letzten Blatt des Buches findet sich eine längere mit der Hand geschriebene Eintragung: De Domina Nostra
Auf der Innenseite des unteren Deckels ist handschriftlich eine größere Eintragung vorgenommen: Collecta Secreta Complenda

Diese Eintragung bezieht sich auf den Apostel Thomas. Dessen Tag aber ist auch nach dem Kalendarium der 21. Dezember, das Proprium de tempore jedoch mit dem letzten Sonntag nach Trinitatis abschließt.

Das ganze bedarf noch einer genauen Analyse, die nicht immer ganz leicht ist. Ich nenne dabei als wichtigste Probleme:

1. Die Datierung. Kalendarium und Proprium weisen Verschiedenheiten auf, die darauf schließen lassen, dass während der Niederschrift im Leben der Kirche einiges verändert worden ist, sowie, dass mehrere Verfasser an dem Buch gearbeitet haben. –

2. In der Zeit nach Ostern fällt unter anderem auf, dass das Gloria in exelsis nicht gesungen werden soll. Auch findet sich fast durchgehend das „Suffragium“, das heute aus der Messe verschwunden ist.

3. Es wird dem Trinitatisfest eine besondere Bedeutung beigelegt, so dass es z.T. zur Wegmarke wird.

4. Die Perikopen nach Pfingsten entsprechen nicht dem Missale Romanum.

5. Der letzte Sonntag im Kirchenjahr heißt „Dominica proxima ante Adventum domini“.

Es handelt sich hier nur um Andeutungen. Eine wesentliche Hilfe für die Interpretation des Alsfelder Missale bedeutet das Buch „Messe und Missalien im Bistum Mainz“ von Herman Reifenberg, Münster 1960. Aber, das hat sich bereits gezeigt, es reicht nicht aus, um alle Probleme zu lösen. Das ist insofern erfreulich, als es sich bei dem kostbaren Buch im Alsfelder Missale um ein eigenständiges Werk handelt, das gerade darum zu bearbeiten Freude macht.

Erstveröffentlichung:

Bruno Jordahn, Das Alsfelder Missale, in: Hessische Heimat, 12. Jahrgang, 1962, Heft 5/6, S. 16-19.

(Frau Dr. Irene Ewinkel, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Kultur- und Denkmalpflege, Hessischer Heimatbund e.V., Geschäftsstelle: Michelbacher Str. 34a, D-35041 Marburg, hat die Veröffentlichung des Jordahn-Textes auf www.Geschichtsforum-Alsfeld.de gestattet. Herzlichen Dank!)

[Stand: 10.02.2024]