Der „Neunte“ November 1938 [09.11.1938]

Von Michael Maynard (Manfred Moses), London (2001)

Einleitung

Im Januar 1938 verließ ich die Samson-Raphael-Hirsch-Realschule in Frankfurt, um einen Beruf zu lernen, der mir bei einer Auswanderung Verdienstmöglichkeiten in einem fremden Land geben würde. Meine Eltern hatten erfahren, dass in Gambach bei Butzbach eine Auto- und allgemeine Schlosserei in jüdischen Händen war (Fritz Hahn). Er war bereit, gegen Vergütung Volontäre anzunehmen. Dort fing ich also 1938 als Lehrling an. Ich war damals fast 16 Jahre alt. Neben mir waren noch zwei weitere Jugendliche im Betrieb.

Der Überfall

Die Judenhetze nach dem Mord an Botschaftsrat vom Rath in Paris drang schnell zu uns Juden in Gambach durch. Wir fürchteten Schikanen und hatten Angst. Am 9. November geschah in Gambach nichts. Morgens, am Freitag, dem 10. November fuhr eine kleine Kolonne mit uniformierten SA/SS-Männern in den Hof der Werkstatt. Sie sprangen von den Wagen und den Motorrädern und schrieen wiederholt „Alle raus, alle raus. Macht, dass ihr weg kommt, haut ab!“ Es wurde aber keiner von uns angegriffen. Wir machten uns sofort auf den Weg. Ich eilte zu meiner Wirtin, der Schwiegermutter von Herrn Hahn. Ich war von Panik erfasst, weil ich der einzige jüdische Jugendliche im Ort war. Ich war überzeugt, dass mir in der Nacht Böses von gleichaltrigen Jugendlichen geschehen würde. Wie ich später erfuhr, wurden alle jüdischen Wohnungen zerschlagen, aber es gab keine persönlichen Angriffe.

Jedenfalls wollte ich unbedingt aus dem Ort, packte ein paar Sachen in einen kleinen Koffer und borgte mir von meiner Wirtin 25 RM als Fahrgeld. Ich war noch in meiner Schlosserkleidung nur mit einem Mantel darüber. Mit dem Postbus fuhr ich nach Gießen zum Bahnhof.

Die Verhaftung

In Gießen zog ich mich in der Bahnhofstoilette um und ging dann gleich zum Postamt, um in Alsfeld anzurufen. Ich wollte wissen, ob es ratsam sei, dorthin zu fahren. Da meine Eltern kein Telefon mehr hatten, weil das Geschäft schon völlig danieder lag, rief ich bei der Familie Steinberger in der Hersfelder Straße an, ich hatte mir deren Nummer gemerkt.

Frau Steinberger war völlig verstört und war kaum in der Lage, vernünftig zu sprechen. Sie sagte mir, ich solle auf keinen Fall nach Alsfeld kommen, sonst gab sie keine weitere Auskunft. Später erfuhr ich, dass die Wohnungen der Alsfelder Juden in der vorhergehenden Nacht vom 9. auf den 10. November heimgesucht worden waren. Am nächsten Tag wurden alle Männer verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Persönliche Angriffe fanden nicht statt.

Ich bat Frau Steinberger in dem Telefongespräch, meinen Eltern auszurichten, dass ich zu meinem Onkel nach Stadtlohn fahren würde. Ich dachte, da der Ort nahe der holländischen Grenze lag, mit der Hoffnung von dort mit anderen der Familie nach Holland flüchten zu können. Jedenfalls war dies der naive Plan eines Jungen von 16 Jahren. Es zeigt auch den Grad der Schutzlosigkeit, die uns in dieser Situation erfassen musste.

Zurück am Bahnhof Gießen löste ich eine Fahrkarte nach Stadtlohn. Der nächste Zug in dieser Richtung fuhr erst um 7 Uhr abends. Ich hatte also etliche Stunden auf dem Bahnhof zu verbringen.

Ich wusste, dass gegen 5 Uhr einige jüdische junge Männer aus Gambach von ihrer Arbeit, Schienenlegen bei der Bahn, nach Gambach und anderen Orten der Umgebung über Butzbach zurückfahren würden. Mein Gedanke war, sie vom Geschehen in Gambach zu unterrichten. Ich stellte mich daher in den Bahnhofseingang und traf die 4 Männer auch dort. Dieses Treffen und mein verstörtes Benehmen war beobachtet worden. Als ich mir an einem Automaten eine Tafel Schokolade ziehen wollte, kam eine Hand von hinten und sperrte den Schieber mit den Worten „Der ist nur für Deutsche“. Voll Angst dachte ich, es wäre besser, in der Dunkelheit des Bahnsteiges oder in einer Unterführung zu warten. Ich hatte ja noch zwei Stunden Zeit. Ich hatte auch beobachtet, wie ein Mann mit dem Kontrolleur sprach. Ich nahm es nicht ernst und passierte eine andere Sperre.

Auf dem Bahnsteig fuhr ein Zug ein, viele Menschen eilten vorbei. Dann war der Bahnsteig leer. Als ich mit meinem Koffer auf und ab ging, wurde ich von einem Mann mit Schlägen und Schimpfen überfallen. Er schlug mich zu Boden und zerrte mich über den Bahnsteig. Mit weiteren Schlägen brachte er mich zur Bahnpolizei. Ich heulte laut, was aber keinen der Zuschauer, die zusammen gelaufen waren, sonderlich störte. Das Schimpfen auf einen Juden genügte, um etwaige helfende Eingriffe zu verhindern.

Die Bahnpolizei wusste nicht, was zu tun war. Sie schickten den „Kerl“, der mich gebracht hatte, weg. Nach einem Anruf bei der Ortspolizei – er beruhigte das Gewissen des Bahnpolizeibeamte sicher – wurde die Anweisung gegeben, mich zu verhaften, obwohl eigentlich kein Grund dazu vorlag.

Die Fahrt ins „Blaue”

Ich wurde in eine Zelle gebracht, nachdem man meine Personalien aufgenommen hatte. Die Zelle war mit mehreren Personen belegt, die mir im ersten Augenblick Kranke mit Hautausschlägen zu sein schienen. Nach ein paar Sekunden begriff ich, dass die Erscheinung von verfärbten, geschwollenen Gesichtern, Gesichtern mit Blutergüssen, geronnenem Blut und ähnlichem hervorgerufen wurde. Es waren Männer aus Gießen und den umliegenden Orten, die vor oder nach der Verhaftung misshandelt worden waren. Trotz aller eigenen Sorgen wunderten sie sich, dass man einen Jugendlichen wie mich aufgegriffen hatte.

Gegen 9 Uhr abends wurden wir alle in einen Autobus, der vor das Polizeigebäude gefahren war, gebracht. Der Bus war von einer schreienden und drohenden Meute umgeben, die von der Polizei zurückgehalten wurde. Im Geiste sah ich nun einen Keller, irgendwo, „wo wir alle zu Ende gebracht würden“. Angst war das nicht mehr, was mich erfasst hatte, Panik oder etwas anderes.

Wir fuhren die ganze Nacht, begleitet von zwei Schutzpolizisten, die sich korrekt verhielten. Am Morgenanbruch, der wegen der Jahreszeit spät war, versorgten sie uns mit Brot und Wasser.

Ich stellte mich absichtlich an den äußeren Rand meiner Kolonne. Als wir am Nachmittag zurück zu den Baracken marschierten, konnte ich bei der Begegnung mit der Kolonne meines Vaters schnell in seine Kolonne schlüpfen. Zum Glück war beim Abmarsch keine SS dabei, nur Kapos, so dass unser Manöver unbemerkt gelang. In der Baracke meines Vaters konnten wir uns in die Arme schließen. Wir waren bis zu meiner Entlassung zusammen.

Man kann sich vorstellen, welcher Nachrichtenaustausch stattfand, aber nur furchtbare und traurige Ereignisse waren zu berichten. Mein Vater hatte aber einige Nahrungsmittel von zu Hause mitgebracht, die unsere karge Verpflegung für einige Tage verbesserten. Aber es gab kein Wasser.

Am nächsten Tag mussten wir nicht auf dem Appellplatz stehen, wir konnten uns innerhalb unseres Teillagers frei bewegen. Mein Vater kaufte von einem Kapo mehrmals einen Becher mit Wasser, das wir auch dazu benutzten, unsere Hände und das Gesicht etwas zu reinigen. Den Körper waschen oder die Unterwäsche wechseln war natürlich unmöglich, was man sich ausmalen konnte. Ich hatte Glück, vier Tage nicht auf die Toilette gehen zu müssen. Als ich dann musste, war ich froh, meine Arbeitsschuhe anzuhaben. Die ganze Umgebung war von Schlamm und Unrat bedeckt. Es hatte nicht geregnet, die Flüssigkeit, die den Schlamm verursachte, kam nicht vom Himmel. Papier gab es auch keines. Man benutzte Zeitungen, Tüten oder was man aus Papier hatte. Es war grauenhaft. Das Wetter war frostig, trotzdem war alles draußen vor den Baracken eine Schlammwüste, durch die Tausende von Menschen liefen. Die Kälte hat wahrscheinlich Seuchen verhütet.

Man sprach mit vielen Bekannten und auch Unbekannten. Die meisten Menschen hatten Schreckenserfahrungen aus ihren Dörfern und Städten zu berichten. Dazu kamen die vielen Misshandlungen während des Transportes und bei der Ankunft im Lager.

Ich erinnere mich besonders an einen Mann, dem im Lager ein Auge ausgeschlagen wurde, Durch Zufall traf ich seine Tochter später während des Krieges in Leeds. Ihr Vater hat die Verletzungen nicht überlebt.

Die Frankfurter hatten besonders schlechte Erfahrungen gemacht, weil sie nach Ihrer Verhaftung von der Festhalle an im „Sonderzug” und bis ins Lager SS-Begleitung hatten. Immer wieder waren Schüsse zu hören, auf Menschen, die in ihrer Verzweiflung in den äußeren Drahtzaun liefen. Die SS blieb aus unserer Umzäunung heraus. Wir nahmen an, dass sie Befehl hatte, dies zu tun, weil nach Protesten aus dem Ausland ein „milderes Benehmen“ verordnet worden war. Jeden Tag beobachteten wir, wie die armen Gefangenen von der Außenarbeit mit einem Steinbrocken auf der Schulter zurückkehrten.

Die Entlassung

Nach ein paar Tagen fing es an, dass jeden Morgen Namen über den Lautsprecher ausgerufen wurden. Es stellte sich heraus, dass dies zur Entlassung führte. Nach 14 Tagen hörte ich auch meinen Namen. Unsere kleine Gruppe wurde ins Hauptlager geführt. Von einem Kapo begleitet gelangten wir in eine Baracke, die offensichtlich als Lazarett diente. Hier mussten wir uns ausziehen und wurden von einem SS-Arzt angesehen und gefragt, ob gesundheitlich alles in Ordnung sei. Besonders wurde nach der Ursache von Verletzungen gefragt. Meine Kopfverletzung gab ich als einen unvorsichtigen Stoß gegen die Balkendecke der Schlafstelle aus. Wir waren uns klar darüber, dass der einzige Grund für die Untersuchung der Verschleierung von Verletzungen diente. Eine „falsche Antwort” hätte zum Aufschub der Entlassung geführt, wie es einige „Ehrliche” erlebten.

Danach ging es weiter in eine andere Baracke, die voll von Koffern und Gepäckstücken war. Es war alles bestens organisiert und unsere abgenommenen Sachen waren schnell gefunden. So hatte ich meinen kleinen Koffer zurück. Am nächsten Tag um 10 Uhr hatten sich die „Aufgerufenen” vom Vortag, am inneren Tor zu versammeln. Man kann sich den Abschied von meinem Vater vorstellen. Werden wir uns wiedersehen? Er gab mir noch etwas Geld für die Heimfahrt, das ich in meinem Stiefel versteckte.

Es war ein eisiger Tag. Wir wurden vor das Haupttor geführt und standen etwa 2 Stunden stramm. Es gab genügend Gelegenheit uns umzusehen. Wir sahen nun auch den verrufenen Spruch der „Nazi-Philosophie“ über dem Tor: „Arbeit macht frei” und darunter „Recht oder Unrecht – Mein Vaterland” . Nach einiger Zeit hätte ich austreten müssen, wagte aber nicht die Reihe zu verlassen und einen der SS im Gebäude anzusprechen. Schließlich war ich gezwungen, mich in meine lange Unterhose zu entleeren.

Gegen Mittag mussten wir ins Verwaltungsgebäude. Wir wurden belehrt, nichts von unseren Erfahrungen in der Außenwelt hören zu lassen. „Sonst könnt ihr schnell wieder hier sein. Nun denkt nicht, dass ihr Gräuelmärchen im Ausland verbreiten könnt. Da haben wir Keller, wo der, der den Mund öffnet, schnell sein Ende finden kann“.

Danach wurde uns befohlen, sich am nächsten Tag bei dem zuständigen Gestapo-Hauptamt zu melden. Danach wurde uns angedeutet, dass uns die Entlassung wohl etwas wert sein dürfte und wir etwas zum „Winterhilfswerk” beitragen könnten. Jeder von uns musste einen Betrag in eine Pappschachtel werfen. Mein Geld musste ich aus meinem Stiefel holen. Ich verlor einen Teil meines Geldes für die Rückreise, welches mir mein Vater gegeben hatte.

Nach Hause

Wir stellten uns wieder draußen an und warteten in der Kälte, ohne Nahrung oder einen Schluck Wasser. Gegen 2 Uhr marschierten wir in Begleitung von SS-Männern los. Wir gingen einen Pfad an der Außenseite der Stacheldrahtumzäunung, vorbei an einigen Wachttürmen und kamen zu einer Straße. Wir liefen die Straße weiter. Nach 50 Metern merkten wir, dass sie SS-Leute nicht mehr da waren. WIR WAREN FREI! Nie wieder in meinem Leben hatte ich eine solche völlige Erleichterung, eine Entlastung von Gefahr erlebt, als in diesem Augenblick. Der Alpdruck war vorüber. Wir gingen weiter bis zu einem kleinen Dorf und suchten eine Bushaltestelle. Der nächste Bus kam erst nach einiger Zeit und brachte uns direkt an den Weimarer Bahnhof. Wir gingen in eine Wirtschaft in der Nähe und verzehrten zum ersten Male wieder ein genießbares Essen und Trinken. Die Wirtsleute waren sehr freundlich. Sie wussten, wo wir herkamen. Unsere Kahlköpfe zeigten es deutlich, wir waren sicher nicht die ersten Entlassenen, die sie erlebten. Ihr Mitgefühl war offensichtlich und die Wirtin weigerte sich, von mir Geld anzunehmen.

Dann gingen wir zum Bahnhof Weimar. Es war inzwischen später Nachmittag. In der Bahnhofshalle war ein Tisch, mit einem Schild „Wohlfahrt für Juden“. Frauen der jüdischen Gemeinde halfen mit Rat und wenn nötig mit Geld. Sie kauften meine Fahrkarte. Es war eine „Anleihe“, die meine Mutter am Tage meiner Rückkunft sofort bei der Gemeinde in Weimar beglich. Die Fahrt im Zug fand ich wegen meines Kahlkopfes sehr peinlich, ich hatte meinen Hut bei der Kofferrückgabe nicht finden können. Mit dem letzten Zug kam ich abends von Fulda in Alsfeld an. Die Begrüßung durch meine Mutter und Großmutter kann man sich vorstellen. Es flossen viele Tränen.

Eingang zur Hölle

Am frühen Vormittag des 11. November fuhren wir durch einen Drahtverhau und hielten vor einer Barackenanlage. Ich hatte ganz hinten im Bus gesessen und hörte zunächst nur das Schreien von „Raus, raus,…“. Es kam von einer langen Doppelreihe her, die von Uniformierten gebildet wurde. Ich sah sofort, dass es SS-Männer waren, aber in einer graugrünen Uniform. Ich spürte instinktiv, dass man auf kein Erbarmen rechnen konnte und versuchte, nicht aufzufallen. Zum Beispiel war da ein Mann um die 50 Jahre, der Sprecher im Bus gewesen war, weil er eine Persönlichkeit darstellte. Als er sah, was uns erwartete, versuchte er zu sagen, dass er wegen einer Herzerkrankung nicht so schnelle laufen könne. Er wurde einfach niedergeschlagen und wir mussten ihn durch das Tor schleppen. Unsere Begleitpolizisten waren völlig entsetzt und wurden abgedrängt.

Das KZ Buchenwald

Ich hatte von Dachau gehört und auch von Osthofen am Anfang der Nazizeit und man wusste, dass dort die Behandlung schlecht war. Im allgemeinen hatte man üble Gerüchte von KZ-Lagern gehört. Keiner, der dort war, sprach danach davon, und man fragte auch nicht weiter. Jetzt konnte ich die Schreckensherrschaft in einem KZ selbst erfahren. Verglichen mit den organisierten Mord- und Vernichtungsaktionen sind wir wohl noch glimpflich davon gekommen.

Ich berichte nur die Höhepunkte unserer Behandlung im Lager und was ich sah. Nach unserem Lauf durch die Doppelreihen von zuschlagenden SS-Leuten erreichten wir das Lagertor. Dort wurden wir von laut schreienden Kapos in Kolonnen aufgestellt. Ein Kapo war eine Art Lagerpolizei, meist Gewohnheitsverbrecher, die nach ihrer Strafe noch ins KZ eingeliefert wurden. Sie trugen Häftlingsuniform mit besonderem Zeichen.

Wir standen bis 5 Uhr nachmittags auf dem Lagerplatz. Keiner wagte sich zu rühren, denn die umherschweifenden SS-Männer nahmen jede Besonderheit, die sie beobachteten, zum Anlass, um zuzuschlagen, an Bärten zu reißen, Brillen weg zu schlagen und zu zertreten. Männer, die vielleicht zum Schutz ihr Eisernes Kreuz am Band oder das Verdienstkreuz angelegt hatten, wurde besonders drangsaliert. Die Kapos liefen auch herum, aber im allgemeinen begingen sie keine Tätlichkeiten, sie schrien und pöbelten uns nur an, meist auch zum Schein. Ihre Aufgabe war es auch, das Kopfhaar abzuschneiden. Erst durch eine Blutung am Hinterkopf stellte ich fest, dass ich bei dieser „Begrüßung“ auch etwas abbekommen hatte. Einer der „Häuptlinge” der Kapos fragte mich, warum ich hier sei, „ich wäre ja noch so jung”. Es schien, dass ich der jüngste im Lager gewesen bin. Der Eifer der Gießener Polizei war eben besonders groß gewesen.

Während des Nachmittags kamen immer mehr Verhaftete herein. Wir waren offensichtlich mit bei den ersten gewesen. Wir standen daher in der Nähe des Eingangstores. Außer dem großen Tor bestand die Anlage aus einer Anzahl niedriger Zellen. Man hörte hin und wieder furchtbares Schreien und lautes Stöhnen. Es waren die Strafzellen, die zeitweise von der SS besucht wurden. Ganz rechts war ein Galgen und davor ein Prügelbock. Einmal sah ich ihn später in Benutzung. Es gab die ganze Zeit weder zu essen noch zu trinken. Gegen 5 Uhr sahen wir Kolonnen von Männern in der jetzt wohl bekannten „Pyjama-Kleidung” und Mütze von außen her ins Lager kommen. Sie schleppten alle schwere Steine auf den Schultern. Ich dachte, dass dies wohl auch mein Schicksal sein würde.

Kurz danach mussten wir kolonnenweise in ein durch Drahtzaun abgeteiltes besonderes Lager marschieren. Hier waren drei oder vier Riesenbaracken .Sie waren ganz neu und hätten nicht in 3 oder 4 Tagen errichtet werden können. Die Wut des Volkes war also gut vorbereitet worden.

Mein kleiner Koffer war mir während des Tages abgenommen worden, zum Glück mit Namensschild. Glücklicherweise hatte ich im Autobus meine Arbeitsschuhe angezogen, weil ich dachte‚ dass es besser für mich sein würde. Geld und anderes Eigentum wurde uns nicht abgenommen.

In den Baracken waren Betten mit 3 oder 4 Etagen, in denen man gerade noch sitzen konnte. Ich suchte mir einen Platz in der 1. Etage mit dem Mann, der neben mir im Bus gesessen hatte. Man wagte nicht herumzulaufen, um nicht in den Weg eines der herumstreifenden SS-Männer zu geraten. Dies endete gewöhnlich mit einer schweren Verletzung.

Gegen 7 Uhr kam eine Suppenverteilung. Die Suppe war völlig versalzen. Da wir seit unserer Ankunft nichts zu trinken bekommen hatten, wäre es unsinnig gewesen, mehr als einen Schluck davon zu nehmen.

Die Nacht war furchtbar. Die SS war immer auf der Suche nach „Vergnügungen“, sie trieb Willkür in jeder Weise. Ich war froh, unten und hinten zu liegen. Besonders schlimm erging es denen, die nachts auf die Toilette mussten. Die Latrinen waren zwei Riesengruben mit Balken um die vier Seiten. Es gab dann Schläge und mancher wurde vom Balken in die Grube gestoßen. Man kann sich vorstellen, was dies bei den „wasserlosen” Zuständen bedeutete.

In der Nacht hörte man Einzel- oder Maschinengewehrfeuer. Dies kam von den Wachttürmen und war auf die Verzweifelten gerichtet, die bewusst gegen den Stacheldrahtzaun, der sowieso elektrisch geladen war, liefen. „Auf der Flucht erschossen”, war dann die Begründung.

Weil ich seit dem Morgen weder gegessen noch getrunken hatte, brauchte ich in der Nacht nicht hinaus. Am nächsten Morgen gab es dünnen Kaffee und ein Stück Brot. Es gelang mir, die Blase zu entleeren, ohne dass ich auf die Latrine musste. Dann mussten wir wieder auf dem großen Platz in Kolonnen stehen, wir standen den ganzen Tag. Es war Sonntag. Dies war der Grund, dass kaum SS zu sehen war, nur hin und wieder einer. So mussten wir nicht ständig stramm stehen. Es gab aber viele, die einfach ohnmächtig wurden und zu Boden fielen. Herzleidende, Diabetiker und andere waren übel dran, weil sie die Strapazen kaum bewältigen konnten. Man sagte später, dass von ca. 4000 Inhaftierten etwa 200 das Lager nicht mehr lebend verlassen hätten.

Ein Licht im Elend

Nun geschah für mich ein kleines Wunder. Ich dachte nämlich, während des Nachmittags in einer entfernten Kolonne Männer aus Alsfeld zu erkennen und dabei meinen Vater, Philipp Moses. Ich war mir nicht sicher, da ich kurzsichtig bin. Ich holte vorsichtig meine Brille aus der Hosentasche und hielt sie schnell vor die Augen. Jawohl, es war mein Vater. Nun drehte ich den Kopf immer wieder in seine Richtung und wackelte mit Absicht hin und her. Nach einiger Zeit war ich mir sicher, dass er mich erkannt hatte. Beim Abmarsch konnten wir uns durch Zeichen miteinander verständigen.

Am Abend gab es Brot und Suppe, die diesmal genießbar war. Die Nacht verlief ruhig. Am dritten Tag mussten wir erneut in Kolonnen stehen.

Am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen, um mit dem ersten Zug über Gießen nach Darmstadt zum Hauptamt der Gestapo für Hessen zu gelangen. So war es mir ja in Buchenwald befohlen worden. Der Beamte war sehr höflich und sehr erstaunt, dass ich in Buchenwald gewesen sei. Er sagte auch, dass es genügt hätte, wenn ich mich in der zuständigen Gestapostelle in Gießen gemeldet hätte. Weiter teilte er mir mit, dass ich so früh entlassen worden sei, weil ich angegeben hätte, auswandern zu wollen. Es wäre also ratsam, das Land sobald als möglich zu verlassen.

Ich kam völlig erschöpft am späten Nachmittag nach Hause, legte mich ins Bett und schlief bis um 2 Uhr am nächsten Tag. 14 Tage später kam auch mein Vater zurück. Er hatte meinen Hut dabei, den er in der Gepäckbaracke gefunden hatte. Im Nazistaat herrschte schließlich Ordnung.

Die Ereignisse am 9. November in Alsfeld – nach Berichten meiner Eltern

In der Nacht des 9. November schlug eine Horde die Rollladen des Esszimmers meiner Eltern in der Jahnstraße 5 ein, stieg ein und zerschlug die Einrichtung. Herr Karl W., der mit meinen Eltern schon über den Verkauf des Hauses verhandelte, stellte sich aber in SA-Uniform vor das Haus und verhütete, dass die „Kerle“ weiter in das Haus eindrangen. Meine Eltern und meine 78-jährige Großmutter flüchteten in den 3. Stock, wo sie bei der Familie Sch. in Schutz genommen wurden.

Am nächsten Tag wurde mein Vater mit anderen jüdischen Männern verhaftet, ins Gefängnis eingeliefert und wie schon geschildert nach Buchenwald gebracht. Die Alsfelder Polizei hatte sich anständig benommen. Einer berichtete meiner Mutter, wohin mein Vater gekommen sei. Um sie zu schonen, unterließ er es zu erzählen, was er mit Entsetzen bei der Einlieferung im Lager beobachtet hatte. Erst später sagte er uns, dass er damals gezweifelt habe, ob da jemand wieder lebend herauskommen würde.

Meine Großmutter, 87 Jahre alt und gehbehindert, war vor Angst völlig zusammengebrochen. Ein Arzt, dessen Name ich nicht mehr weiß, veranlasste ihre Einweisung ins Alsfelder Krankenhaus. Sie wurde dort sehr freundlich behandelt und blieb eine Woche dort bis sie sich wieder erholt hatte.

Nach einigen Tagen berichtete Frau Steinberger meiner Mutter von meinem Anruf und dass ich zu meinem Onkel nach Stadtlohn gereist sei. Aber nach einer Woche erhielt sie von einem Schwager in Westfalen einen Brief, in dem berichtet wurde, dass mein Stadtlohner Onkel einig Tage im Gefängnis gewesen sei. Keine Erwähnung von mir. Meine Mutter war verzweifelt: „Wo ist Manfred?“.

Dazu kam die Information, dass der 16-jährige Sohn eines Vetters in Peine spurlos verschwunden sei. Später stellte sich heraus, dass er in der Pogromnacht ermordet worden war. Die Polizei in Alsfeld riet ihr, sich bei der Gestapo in Gießen nach mir zu erkundigen. Sie wurde informiert, dass ich ins KZ Buchenwald eingeliefert worden sei. So wusste sie wenigstens, dass ich am Leben war. Man kann sich die Verzweiflung einer Mutter in dieser Situation vorstellen, zu wissen: Mann und Sohn sind im KZ.

Soweit der Bericht zu meiner Familie.

Erstveröffentlichung:

Maynard, Michael: Der „Neunte“ November 1938, in: Gegen das Vergessen. 09.11.1938 – 09.11.2001.
Mit 16 Jahren in Buchenwald, ein Alsfelder Schicksal. hrsg. Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Alsfeld“.

Vertiefungsliteratur:

Kropat, Wolf-Arno: Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation, Wiesbaden 1988.

Kropat, Wolf-Arno: Reichskristallnacht. Der Judenpogrom vom 07.11.1938 bis 10.11.1938 – Urheber, Täter, Hintergründe, Wiesbaden 1997.

Dittmar, Heinrich: Einführung in den Text von Maynard, Michael (Der „Neunte“ November 1938, in: Gegen das Vergessen. 09.11.1938 – 09.11.2001. Mit 16 Jahren in Buchenwald, ein Alsfelder Schicksal. hrsg. Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Alsfeld“), Alsfeld 2001.

Mühlhausen, Walter: Als die Synagogen brannten. Die November-Pogrome 1938 in Hessen, in: Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Blickpunkt Hessen, Nr. 15/2013.

Oberhessische Zeitung: 48 ermordete Alsfelder Juden. Gedenkfeier anlässlich der „Reichspogromnacht“ am 09.11.1938. Erinnerung an jüdische NS-Opfer, in: Oberhessische Zeitung, 10.11.2021.

[Stand: 01.01.2024]