Von Dr. Hans Zitko (1996)
Die bedrohliche Zunahme neonazistischer Gewalttaten gegen Ausländer in Deutschland hat deutlich werden lassen, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden darf. Gegen den entfesselten Hass auf das Unbekannte und Fremde ist das Wissen um die historischen Ereignisse und deren weitreichende Folgen zu setzen. Eine Aufarbeitung des Geschehenen hat vor allem die Erinnerung an die Verfolgten wachzuhalten, die der rigiden Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zum Opfer fielen. Lernprozesse, wie die hier geforderten, sind nur dann in der Lage, das Geschehene zu begreifen, wenn sie von einer Trauer um die Geächteten und Ermordeten begleitet werden, die sie vor dem Vergessenwerden bewahrt. Daran hat es in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht selten gefehlt.
Die durch öffentliche Institutionen und Medien geleistete Erinnerungsarbeit bildet keinen wirklichen Ersatz für mangelnde Betroffenheit bei breiten Teilen der Gesellschaft. Dass die historischen Ereignisse der Judenverfolgung das Maß des subjektiv Vorstellbaren bei weitem übersteigen, ist immer wieder bemerkt worden. Angesichts der in wissenschaftlichen Untersuchungen geschätzten Zahlen von Opfern versagt die Einbildungskraft bei ihrem Versuch, das wahre Ausmaß des Vernichtungsprozesses anschaulich zu machen. Hinter den abstrakten Zahlenkolonnen, die in den Öffentlichen Debatten immer wieder beschworen werden, um das Geschehene ins Bewusstsein zu rücken, droht der reale Schrecken zu verschwinden. Der Weg zu einem mehr als nur statistischen Begreifen der historischen Katastrophe führt über ein Wissen um das mit konkreten Orten verknüpfte Schicksal von Einzelnen, soweit es dokumentiert ist und nachvollzogen werden kann. Es sind Individuen, die verschwanden; eine Auseinandersetzung mit den politischen Vorgängen kann bei ihrer Geschichte ansetzen. Dies setzt die Bereitschaft voraus, nach verbliebenen Spuren der Verfolgten zu suchen, Orte zu befragen und Ereignisverläufe nachzuzeichnen.
Viele Orte und Städte in Deutschland und in den von Deutschen während des Zweiten Weltkrieges besetzten Staaten hatten eine jüdische Gemeinde. Juden bildeten bis zu ihrer Ausgrenzung und schließlichen Deportation einen Teil der Gesellschaft und waren im alltäglichen Leben allenthalben präsent; sie standen in vielfältigen persönlichen und sonstigen Beziehungen zur übrigen Gesellschaft, pflegten dabei ihre eigenen Traditionen und gingen ihren beruflichen Tätigkeiten nach, waren Handwerker, Händler, Lehrer, Ärzte oder Wissenschaftler. Von diesen jüdischen Lebenszusammenhängen inmitten der deutschen Kultur und in den im Krieg unterworfenen Gebieten ist kaum etwas geblieben. Die gesellschaftliche Situation der Gegenwart ist durch die Abwesenheit der ehemals Anwesenden gezeichnet. Viel wäre für die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gewonnen, wenn diese Abwesenheit in ihrer ganzen Tragik begriffen würde, als ein schmerzlicher Mangel, der durch nichts behoben werden kann. Eine Erlösung von den dunklen Seiten der Geschichte, wie sie manche erhoffen, gibt es nicht. Angesichts der irreparablen Konsequenzen der Politik des Dritten Reiches ist der Versuch, zu einer ungebrochenen Normalität in den gesellschaftlichen Verhältnissen zurückzukehren, ein Verdrängungsmanöver, das die Augen vor der Wahrheit verschließt.
Das vom Arbeitskreis Stadtzeichner Alsfeld organisierte Ausstellungsprojekt ist der Versuch einer Annäherung und Auseinandersetzung mit der zurückliegenden Geschichte. Im Zentrum steht dabei das Interesse am Schicksal jener jüdischen Bürger, die in der Stadt Alsfeld in den dreißiger Jahren lebten und flüchten konnten oder in die Vernichtungslager gebracht wurden und dort starben. Drei Künstlerinnen und ein Künstler konnten für dieses Projekt gewonnen werden; alle haben sich über einen längeren oder kürzeren Zeitraum in Alsfeld aufgehalten und sich mit dem Ort und seiner Geschichte vertraut gemacht. Die Arbeiten, die sie in der realisierten Ausstellung zeigen, sind in einem deutlichen Wissen um die Grenzen der künstlerischen Ausdrucksmittel angesichts des historisch Geschehenen entstanden. Es handelt sich bei den Beiträgen um subjektive und persönliche Stellungnahmen unterschiedlicher Art und mit unterschiedlichen Interessen, die alle nicht den Anspruch erheben, dem gesamten Komplex des Holocaust künstlerisch gerecht zu werden; dies in Kunstwerken anzustreben, wäre ohnehin vermessen.
Der Beitrag der Malerin Antje Siebrecht knüpft an die Tradition der sogenannten Spurensicherung an, einer zuerst in den siebziger Jahren hervorgetretenen Richtung der Kunst, die das Programm verfolgt, anhand von Spuren und gesammelten Relikten historisch vergangene oder verdrängte Lebenszusammenhänge zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist der seit dem späten neunzehnten Jahrhundert bestehende jüdische Friedhof von Alsfeld, der die Zeit der Judenverfolgung überdauert hat und heute das wichtigste Denkmal des ehemaligen jüdischen Lebens der Stadt darstellt. Die hier durch die Grabinschriften dokumentierten Begräbnisse brechen mit den späten dreißiger Jahren ab; nur in den sechziger Jahren noch hat sich ein Jude auf diesem Friedhof bestatten lassen. Zwei weitere Inschriften aus der Nachkriegszeit notieren den Tod zweier jüdischer Bürger im Konzentrationslager Theresienstadt im Jahre 1942. Veranlasst wurde die Ausführung dieser Epitaphien, die an das Schicksal von Sally Flörsheim und Susanne Rothschild erinnern, durch Angehörige der Opfer, die flüchten konnten und die Verfolgung überlebt haben.
Antje Siebrecht hat diese beiden Inschriften ins Zentrum ihres künstlerischen Interesses gerückt. Sie konnte einen persönlichen Kontakt zu einem heute in England lebenden Enkel der Susanne Rothschild herstellen, der selbst seine Kindheit in Alsfeld verlebte und in den späten dreißiger Jahren aus Deutschland emigrierte. Von diesem heute älteren Mann mit dem Namen Michael Maynard erhielt sie Daten und Informationen zur Familiengeschichte, die er gesammelt und aufgezeichnet hat, und nicht zuletzt eine Kopie des letzten Rotkreuzbriefes, den er im April 1942 von den Eltern – Philipp und Ida Moses – und der bereits achtzigjährigen Großmutter kurz vor ihrer Deportation empfing. Alsfeld hatten die in Deutschland Zurückgebliebenen zu dieser Zeit schon verlassen; der Brief trägt eine Essener Adresse als Absendeort. Während der telegrammartige Text das teils dunkle Schicksal weiterer Familienangehöriger anspricht, berichtet er zugleich von der unmittelbar bevorstehenden Deportation der Eltern in den Osten. Die Mutter starb in Auschwitz; die Spuren des Vaters verlieren sich im polnischen Izbica, einem Durchgangslager in die Vernichtungsfabriken; die damals schon sehr gebrechliche Großmutter kam – wenn sie den Transport überlebt haben sollte – nach Theresienstadt, wie auf dem Grabstein festgehalten ist.
Für ihren Ausstellungsbeitrag hat die Künstlerin den Text des Briefes setzen und auf kleinen handgeschöpften Papieren in zahlreichen Exemplaren drucken lassen. Als zusätzliches Element verwendet sie mit farbiger Ölkreide oder Graphit ausgeführte Frottagen auf Papieren gleichen Formats, die Teile von Schriftzügen oder andere Zeichen und Symbole auf den Grabsteinen des Friedhofs wiedergeben. Die schließlich realisierte Arbeit zeigt 365 Blätter, die in einer regelmäßigen, quadratischen Anordnung auf der Bodenfläche ausgelegt sind. Entspricht die Gesamtzahl der hier eingesetzten Elemente den Tagen eines Jahres, so wiederholt sich in der periodischen Abfolge von bedruckten Papieren und Frottagen in den einzelnen Reihen des Quadrats die Teilung der Zeit in Abschnitte von Wochen. Beschwert sind die Papiere durchgehend mit einfachen Basaltkieseln, wie sie im Gleisbau Verwendung finden. Der jüdische Brauch, bei dem Besuch eines Grabes einen Stein als Symbol des Gedenkens niederzulegen, wird hier mit einer Anspielung auf die mit Hilfe von Güterzügen durchgeführten Deportationen der Verfolgten verknüpft. Antje Siebrecht thematisiert mit dieser bodenbezogenen Arbeit die Zeit, die seit ihrem Aufenthalt in Alsfeld vor einem Jahr vergangen ist und die sie als Phase eines fortgesetzten und insistierenden Erinnerns versteht.
Mit vergleichbaren Intentionen ist die Künstlerin in einer anderen, ebenfalls bei ihrem Alsfelder Aufenthalt entstandenen Arbeit vorgegangen. Auf großen, hochformatigen Papierbahnen notiert sie handschriftlich in flächenfüllender Wiederholung die Namen von Susanne Rothschild und Sally Flörsheim; eine Fläche ist dabei jeweils einem dieser Namen vorbehalten. Eine dritte Papierbahn trägt in entsprechender Ausführung die Ortsnamen Alsfeld und Theresienstadt, als geographische Ausgangs- und Endpunkte der Verfolgung. Die stetige Repetition der Schriftzüge, die diese als Triptychon konzipierten Gruppe von Blättern bestimmt, begreift die Malerin als einen meditativen Prozess, der beschwörenden Charakter gewinnt und eine innere Annäherung an das Schicksal der genannten Personen ermöglichen soll. Über die mit Text dicht überzogenen Flächen setzt die Künstlerin überdies die Silhouetten eigener Körperformen, um den Anspruch einer Identifikation mit den Opfern sinnfällig zu machen.
Erstveröffentlichung:
Hans Zitko, Die Notwendigkeit des Erinnerns, in: Arbeitskreis Stadtzeichner Alsfeld, ErinnerungsLos. Versuch einer Annäherung an das Schicksal der Juden in Alsfeld. Katalog zur Ausstellung „Erinnerungslos“ vom 02.-23.06.1996 in Alsfeld. Herausgeber: Arbeitskreis Stadtzeichner Alsfeld, Bodo Runte-Wried, Alsfeld 1996, S. 7-13.
[Stand: 09.07.2024]