50 Jahre Alsfelder Kammerorchester

Von Dr. Norbert Hansen, Alsfeld (2011)

Streicher-Ensembles haben in Alsfeld eine gute Tradition: Dank engagierter Musiklehrer konnten zu allen Zeiten Kinder und Jugendliche über privaten Unterricht und am Gymnasium (früher Oberrealschule) für das Spielen eines Streichinstruments gewonnen werden. Damit war die Voraussetzung gegeben, sich auf Initiative von Musiklehrern auch zum Musizieren in der Gruppe zusammenzufinden. Natürlich waren hier die Lehrer die „tragenden Säulen“, neben älteren Schülern und auch „Ehemaligen“ im reiferen Alter, die für ein spielfähiges Orchester unverzichtbar sind.

Beim Blick zurück begegnet man dem aus etlichen Publikationen bekannten Bild vom Alsfelder Jugendorchester 1927 unter Leitung von Karl Dotter (1878-1940) [01]. In der Festschrift des Albert-Schweitzer-Gymnasiums 1861-1986 heißt es dazu auf S. 65: „Im Schuljahr 1926/1927 bildete sich wieder einmal ein Schul-Orchester“. Das „wieder einmal“ kennzeichnet die oft typische, durch häufige Zu- und Abgänge geprägte Diskontinuität eines Schulorchesters. Ein überwiegend aus Erwachsenen bestehendes Laienensemble wie das spätere Alsfelder Kammerorchester mit einem Kern erfahrener, teils seit Jahrzehnten zusammenspielender Musiker stellt das Gegenmodell dar.

Horst Glitsch mit seinem „Projekt-Kammerorchester“ im Dezember 1959 in der Walpurgiskirche bei der Aufführung des „Weihnachtsoratoriums“ von Bach
Foto © Renate Glitsch privat

Doch bevor die Aktivitäten dieses Orchesters vor 50 Jahren begannen, hatte schon Horst Glitsch 1958 ein „Projektorchester“ zusammengestellt, das er „Alsfelder Kammerorchester“ nannte. Gemeinsam mit seinem Kantatenchor führte er noch im gleichen Jahr die Johannes-Passion“ auf. 1959 folgten eine „Ostermusik“ und am Jahresende Bachs Weihnachtsoratorium“ in der Walpurgiskirche. „[…] Die Aufführung war eine vorbildliche Leistung aller Beteiligten. Sie zeigte ein Niveau, wie es in Alsfeld nicht besser erreicht hätte werden können […]. Die Mitglieder des Alsfelder Kantatenchors und des Alsfelder Kammerorchesters scheuten keine Opfer, um dieser Aufführung zum Erfolg zu verhelfen. Es ist erfreulich, dass es immer noch Menschen gibt, die in unserer rastlosen Zeit ihre ganze Freizeit hingeben, um mit der Aufführung eines solchen Werkes ihren Mitmenschen eine kleine Freude zu machen, und die sich auch nicht von dem Risiko eines Defizits erschrecken lassen […]“, schrieb Oberhessische Zeitung am 22. Dezember 1959. Der Bestand dieser Streichergruppe war allerdings nur von kurzer Dauer. Ein Jahr später löste sie sich wieder auf.

Titelseite der Einladung zum ersten öffentlichen Auftritt des Kammerorchesters 1962 – Inserat © OZ 1962

Bereits einige Zeit zuvor hatte Helmut Köhler, bei Horst Glitsch noch 1. Geiger und seit 1956 Musiklehrer am Alsfelder Gymnasium, begonnen, sein Schulorchester mit „Ehemaligen“ und qualifizierten externen Musikern für größere Auftritte zu verstärken. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Albert-Schweitzer-Schule im Juni 1961 wurde dann ein „neues“ Orchester „aus der Taufe gehoben“ [02], das Helmut Köhler weiterentwickeln und auch dauerhaft für Auftritte außerhalb des Gymnasiums in Alsfeld etablieren wollte. Auf Vorschlag von Arnold Diegel (vgl. Jugendorchester K. Dotter von 1927) erhielt diese Gruppe dann auch die Bezeichnung „Alsfelder Kammerorchester“ [03].

Das Alsfelder Jugendorchester unter Karl Dotter 1927; hintere Reihe stehend v.l.: Reinhold Ploch, Karl Dotter, Hermann Fuchs, Ernst-Otto Hofmann, Arnold Diegel; vordere Reihe v.l.: Paul Zoll (am Klavier), Erwin Völsing (Klavierlehrer von Helmut Köhler), R. Freundlich, Lehrer Grether, Gretel Seyffarth, R. Becker, Hermann Dotter.
N. N. © aus dem Jahr 1927

Der erste öffentliche Auftritt dieses Streicherensembles am 22. September 1962 sollte eigentlich als „Serenade im Klosterhof unter freiem Himmel stattfinden. Das schlechte Wetter jedoch erzwang eine Verlegung in die frühere Aula des Gymnasiums in der Schillerstraße.

Konzert in der Turnhalle der Gerhart-Hauptmann-Schule (07.11.1971)
Leitung: Helmut Köhler – Foto © Renate Glitsch privat

Dieses Konzert – noch heute sprechen damals Beteiligte vom „G-Dur“-Konzert, da alle an diesem Abend gespielten Stücke von Telemann, Gluck und Haydn in G-Dur geschrieben waren – fand in der Presse gebührende Beachtung: „[…] Naturgemäß wird man in kleineren Städten darauf angewiesen sein, fremde Kräfte heranzuziehen, um höchstmögliche künstlerische Leistungen zu garantieren. Mit dem Idealfall hat man es zu tun, wenn ein Kulturkreis durch Pflege und Führung beim eigenen Tun Erfolge erzielt, die hohen künstlerischen Ansprüchen gerecht werden. Dieser Idealfall wurde durch das Konzert demonstriert. Studienrat Köhler hat es verstanden, über seine Tätigkeit als Musikerzieher hinaus, in die Breite zu wirken und ein Kammerorchester mit heimischen Kräften zu erstaunlichem Vermögen zu führen […].“ (Oberhessische Zeitung vom 25.09.1962).

Als Solistin im Bratschenkonzert G-Dur von G. Ph. Telemann erhielt Gretel Seyffarth (als junges Mädchen auf dem Foto vom Jugendorchester K. Dotter 1927) hohes Lob von der Kritik. Weitere Musiker der „ersten Stunde“ waren u.a.: Arnold Diegel, Lotte Filbrand, Lore Jörns, Edith Köhler, Rudolf Kühnl, Gisela und Dieter Müller sowie Herbert Rodemer. In den Folgejahren kamen Ursula und Hartmut Geist, Heinrich und Renate Glitsch, Wolfgang Mildner, Richard Rosenberg und Susanne Saalmann hinzu.

Große Aufführung in voll besetzter Stadthalle: Helmut Köhler dirigiert Haydns „Jahreszeiten“ 1978 mit Singkreis und Kammerorchester – © Renate Glitsch privat

Eingeladen zu diesem ersten Konzert hatte die Kulturgemeinde Alsfeld, die seit den frühen 1950er-Jahren regelmäßig Gastspiele auswärtiger Künstler organisiert und so mit Konzerten, Opern, Operetten, Schauspielen und Vorträgen für ein breit gefächertes Kulturangebot in Alsfeld gesorgt hatte [04]. Als mit zunehmender Verbreitung des Fernsehens in den 1960er-Jahren die Besucherzahlen nachließen, musste der Verein sein Engagement – nicht zuletzt aus finanziellen Gründen – schrittweise reduzieren. 1969 kam es zu dem einschneidenden Beschluss, nur noch als Trägerverein für das Alsfelder Kammerorchester und den Alsfelder Singkreis zu fungieren. Damit hatte das Orchester endgültig eine „Heimat“ gefunden.

Dass sich das Ensemble unter Helmut Köhler inzwischen ein beachtliches Renommee erarbeitet hatte, belegt exemplarisch der Einleitungstext einer Konzertbesprechung im Alsfelder Kreisanzeiger vom 18.11.1969:

„Alsfeld (ub). Ein ausgezeichnetes Orchester unter bewährter Leitung, eine hervorragende Instrumentalsolistin, ein gut zusammengestelltes Programm, ein vollbesetztes Haus und ein aufgeschlossenes Publikum – mehr kann man wohl kaum von einem Orchesterkonzert erwarten. Deshalb kann man nur sagen, dass das von der Kulturgemeinde veranstaltete Orchesterkonzert am Sonntagabend im großen Saal des Deutschen Hauses ein voller Erfolg war.“

Auch die Oberhessische Zeitung vom 21.11.1969 äußerte sich voll des Lobes: „[…] Die Präzision der Einsätze, das vollkommene Eingehen des Orchesters auf alle musikalischen Andeutungen des Dirigenten waren großartig. Und hier muss noch einmal ganz besonders hervorgehoben werden, dass es sich beim Alsfelder Kammerorchester nicht um eine professionelle Vereinigung handelt, sondern um ein Laien- oder besser gesagt, um ein Liebhaber-Orchester, getragen von dem Idealismus seiner Mitglieder […]“. Später stehen im gleichen Artikel noch folgende, selten gelesene Sätze: „[…] Dürfen wir an dieser Stelle auch all den ‚stummen‘ Dienern der Kunst danken: den freiwilligen Platzanweisern, Karten- und Programmverkäufern, der Stadt, die den Saal und das Podium so geschmackvoll geschmückt hatte, und nicht zuletzt dem BGS für den Aufbau des Podiums. Das Orchesterpodium mitten im Saal schuf gleich zu Beginn des Konzertes eine Atmosphäre des persönlichen Kontaktes zwischen Musikern und Zuhörern. Es ist dies optisch wie akustisch eine glückliche Lösung […]“.

Bei größeren Vorhaben, für die externe Verstärkungen erforderlich waren, zeichnete sich allerdings meist schon im Planungsstadium der finanzielle Verlust ab. Mehrfach wurde der Magistrat der Stadt Alsfeld mit Bitte um Zuschuss angeschrieben – mit Erfolg, wie eine Antwort vom Mai 1970 bestätigt: „ Wir beziehen uns auf Ihren Antrag vom 20.04.970 und teilen Ihnen mit, dass der Magistrat beschlossen hat, der Kulturgemeinde zu dem anlässlich des Kantatenabends am 1. März 1970 entstandenen Defizit eine Beihilfe von 500,- DM zu gewähren […]“ [05] „Goldene Zeiten“ aus heutiger‚ Sicht.

Es folgten Jahrzehnte mit anspruchsvollen Programmen und beeindruckenden Auftritten. Klassische und zeitgenössische, geistliche und weltliche, ernste und heitere Musik wechselten in bunter Folge. Von 1980-1998 beim „Internationalen Musikfestival“ der Stadt Alsfeld und ab 2000 bis heute innerhalb der Konzertreihe „Alsfeld Musik Art“ hat sich das Kammerorchester mit seinem „ lokalen Beitrag“ um das musisch-kulturelle Leben in Alsfeld hoch verdient gemacht. Zwei bis drei Konzerte im Jahr – vielfach mit dem Singkreis zusammen und öfter auch in umliegenden Städten und Gemeinden – sind eine stolze Bilanz für ein halbes Jahrhundert.

„Die Regentrude“: Generalprobe in der Alten Oper Frankfurt (September 1987) Foto © Hahn-Grimm

In die Jahre 1984-1994 fallen auch die vier Uraufführungen, bei denen das Orchester sicher mehr als einmal an die Grenze seiner Möglichkeiten stieß. Unvergessen der Höhepunkt: „Die Regentrude“, eine Oper in sieben Szenen, 1987 von der Meisterklasse des renommierten Komponisten Hans-Werner Henze geschaffen. An diesem außergewöhnlichen Projekt waren auch der Alsfelder Singkreis, der Mandolinenclub 1977 Alsfeld, ein Gitarrenquartett und ein Blockflötenensemble, der Spielmanns- und Fanfarenzug der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt Alsfeld und der Musikverein Grünberg beteiligt.

Der damals 22-jährige und inzwischen arrivierte Dirigent Markus Stenz und Helmut Köhler bei einer „Regentrude“-Probe – Foto © Hahn-Grimm

Wie formulierte die Presse schon vor fast 40 Jahren: „[…] Immerhin war es erstaunlich, was man hier zu hören bekam, wo Menschen – Musiklehrer, Kaufmann, Hausfrau, Professor, Student, Ingenieur, Schüler und wer da noch alles mitspielte –, die im stillen Kämmerlein üben, sich einmal in der Woche zum Zusammenspiel treffen und dazu oft noch viele Kilometer nach der Tagesarbeit angereist kommen […]“ [06]. Diese Beschreibung ist heute wahrer denn je, auch wenn zurzeit kein Professor mitspielt.

„Eine kleine Nachtmusik“: Serenadenabend im Schlosshof Romrod am 06.06.2004 Leitung: Jörg M. Abel – Foto © Thomas Promberger

Ende 1998 übergab Helmut Köhler, 1987 von seiner Heimatstadt mit der Verleihung des Kulturpreises geehrt und heute Ehrenmitglied der Kulturgemeinde, nach 38 Jahren sein Amt zunächst an Thomas Walter, Musikpädagoge am Alsfelder Gymnasium. In 2002 betreute Konzertmeister Wladimir Pletner das Orchester, bevor ab 2003 der Gießener Musikwissenschaftler und -pädagoge Dr. Jörg Michael Abel die Leitung übernahm.

Am 10. April 2011 feiert das Kammerorchester, verstärkt durch Schüler der Alsfelder Musikschule, seinen 50. Geburtstag mit einem Jubiläumskonzert in der Dreifaltigkeitskirche. Das schönste Geburtstagsgeschenk für alle Beteiligten wären neue Mitspieler, um den Bestand des Ensembles zu sichern. Schon vor fast l0 Jahren warb man oberhessenweit in Zeitungsanzeigen um Interessenten. Vielleicht führen diese Zeilen jetzt zum Erfolg.

Thomas Walter dirigiert Chor und Orchester bei der Messe C-Dur von Beethoven am 17.04.2005 in der Walpurgiskirche – Foto © Thomas Walter

Zeitungsanzeige: Oberhessische Zeitung vom 26.01.2002

Anmerkung:

Ein Gruppenfoto des Alsfelder Kammerorchesters (Mai 2009) aus der Originalveröffentlichung des Verfassers wurde bislang nicht veröffentlicht, da die Urheberin nicht erreicht werden konnte. Sobald ihr schriftliches Einverständnis vorliegt, wird die Fotografie eingefügt.

Quellen:

[01] Festschrift zur 125-Jahr-Feier der Albert-Schweitzer-Schule 1986, hrsg. von der Direktion und Kollegen der Schule

[02] Oberhessische Zeitung vom 07.11.1998

[03] Mündliche Information von Helmut und Edith Köhler

[04] Hansen, Norbert: 50 Jahre Kulturgemeinde Alsfeld e.V. Wechselvolle Geschichte eines Vereins mit großer Bedeutung für das kulturelle Leben einer Stadt, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 17. Reihe, Nr. 5, 2001, S. 121-135.

[05] Vorstandsakten der Kulturgemeinde

[06] Oberhessische Zeitung vom 10.11.1971

Die Veröffentlichung des Textes im Rahmen des Internetprojekts www.Geschichtsforum-Alsfeld.de
wurde vom Autor, den Fotografinnen und Fotografen genehmigt.

Erstveröffentlichung:

Dr. Norbert Hansen, 50 Jahre Alsfelder Kammerorchester, in: Heimat-Chronik Alsfeld, 27. Jahrgang, 2011, Heft 3, S. 1-4.

[Stand: 04.03.2024]