Von Walter Haupt, Liederbach (1974/2024)
Johanna Merck starb am 5.11.1773 (1) und wurde zwei Tage später auf dem Alsfelder Friedhof beerdigt (2). Da ihre Kinder von Alsfeld wegzogen, wurde ihr Grab wohl bald nach dem Tode ihres Mannes (1804) aufgegeben und der Grabstein an der Friedhofskapelle aufgestellt. Dort fanden ihn Mitglieder des Oberhessischen Geschichtsvereins aus Gießen, als sie im Sommer 1893 zu einem Tagesausflug nach Alsfeld kamen und auch zum Friedhof auf dem Frauenberg wanderten (3). Etliche Jahrzehnte später (1967) untersuchte Peter Merck (4), letzter Herausgeber der Merckschen Familienzeitschrift, als erster wissenschaftlich den Grabstein. Wieder Jahrzehnte später – als der Grabstein weiter durch die Witterung gelitten hatte – nahm August Mengel 1993 die historischen Grabsteine auf dem Alsfelder Friedhof auf und beschrieb in diesem Rahmen auch den Grabstein von Johanna Merck (5). […]
Im Schmuckgiebel des Grabsteins sind zwei Engel zu sehen, die eine Krone über den Sarg halten. Es handelt sich um die Lebenskrone.(6) Der Grabstein ist auf beiden Seiten beschriftet. Die Vorderseite dient der familiären Erinnerung. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt sich eine stärkere Gefühlsbindung zwischen dem Toten und der hinterbliebenen Familie heraus, erst gegen Ende des Jahrhunderts findet Trauer der Hinterbliebenen um ihren Verlust statt.
Die Inschrift der Vorderseite lautet: (7)
Denckmal der Liebe und der Treue,
welches Herr Hofrath F.C. Merck
seiner verehrungswürdigen Ehegattin
J.E.M., einer gebohrnen Neubauerin,
gewidmet hat.
Theils wegen des gottgefälligen Ehebündnisses,
welches er 15 Jahr mit ihr unterhalten,
theils wegen des Schmerzes und unvergeßlichen Verlustes,
den er durch seinen allzufrühen Eintritt am 5. Nov. 1773
in dem 37. Jahr ihres Alters erlitten,
Und womit sie ihm anfangs 4,
jetzo aber noch 3 sehr kleine Kinder geschenkt.
Mit segnender Hand und im Vertrauen
in die allgütige Vorsorge Gottes
Die Inschrift der Rückseite lautet: (8)
Non quam diu, sed quam
bene vixeris refert. (9)
Lerne, o Sterblicher, an d.beyspiele
…der wohlseeligen dein Leben
auch frühzeitig der Tugend wiedmen,
welche dem menschlichen Leben
nur allein seinen wahren Werth [heysset]
…So wirst auch du bald mit ihr
zur Vollkommenheit gelangen
…und den Preiß der Tugend,
..den herlichen Gnadenlohn,
..in der Ewigkeit mit ihr teilen
…..und einerndten.
Der Tugend Pfad ist anfangs steil,
Läßt nichts als Mühe blicken. (10)
Viele – von Properz bis Rilke und Brecht – haben den Versuch gemacht, ihre eigene Grabinschrift zu schreiben. Das ist auch bei Johanna Merck denkbar: Bei der Geburt ihres letzten Kindes erlitt sie eine Infektion. Obwohl ihr Mann seine medizinische Ausbildung in Straßburg erhalten hatte und dort als erster Arzt aus Hessen- Darmstadt eine spezielle Ausbildung in der Geburtskunde, die der deutschen weit voraus war, erhalten hatte, konnte er seiner Frau nicht helfen. Johanna Merck wusste, dass sie in einigen Wochen sterben würde.
Die Grabinschrift ist ein didaktischer Appell. Sie fordert den Leser als Glied einer Wertegemeinschaft auf, die Vorzüge der Toten nachzuahmen. Im deutschsprachigen Hauptteil vermittelt sie die christliche Botschaft: „Die vom Körper gelöste unsterbliche Seele wird am jüngsten Tag sich mit dem im Grabe schlafenden Körper wiedervereinigen und in die ewige Seeligkeit im Himmel eingehen.“ Die eschatologische Glaubensgewissheit sprach von der Kürze des irdischen Lebens und bezeichnete den Tod idealerweise als eine Geburt des neuen Lebens. Als Christ bestand die Notwendigkeit, sich auf den Tod vorzubereiten, „in der Hoffonung auf Gottes Erbarmen am Tage des Gerichts am Endde der Zeit.“
Die Zitate am Anfang und Ende der Grabinschrift beziehen sich auf die Tugend. Das zweite Zitat aus einem Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert hat rein christlichen Bezug, das erste Zitat von Seneca gibt eine philosophische Grundaussage aus der griechisch-römischen Antike wieder. Letzteres vermittelt den höchsten weltlichen Wert, der nun an die Stelle des höchsten religiösen Qualitätssiegels, Weltabgewandtheit, getreten ist. Mit Tugend als moralischer Begriff ist die eheliche und elterliche Tugend gemeint, die nachzuahmen ist. Johanna Merck als höchst tugendhafte Frau verbindet für sich den christlichen und antiken Tugendbegriff zu einem neuen moralischen Begriff der Aufklärung. Johanna Merck steht im Rahmen einer neuen Erinnerungskultur am Beginn der Säkularisation. […]
Anmerkungen:
1) So der Grabstein
2) So F. Chr. Merck in seiner Trauerode
3) Darüber berichtete ausführlich der Darmstädter Anzeiger.
4) Peter Merck wurde am 20.04.1940 in Darmstadt geboren, er lebte in Gießen und war Gymnasiallehrer in Wetzlar. Er war vielseitig im Kulturbereich tätig. Gestorben am 28.03.2022.
5) Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 14. Reihe, Nr.8/9, 1993, S. 281
6) Vgl. Off. 2, 10: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“
7) Der vorliegende Text der Vorderseite ist – wegen vorangeschrittener Verwitterung des Textes – keine buchstabengetreue Wiedergabe, sondern basiert auf einer inhaltlichen Erarbeitung (mit Vergleich anderer Grabsteine) durch Peter Merck.
8) Es wurde versucht, den Text buchstabengenau wiederzugeben (nach dem Erhaltungszustand von 1974).
9) Die Übersetzung des lateinischen Anfangs lautet: Es kommt nicht darauf an, wie lange, sondern wie gut man gelebt hat. – Es ist ein (nicht wörtliches) Zitat aus Seneca: Epistulae morales 77
10) Die letzten Verse sind ein Zitat aus Christian Fürchtegott Gellerts Gedicht „Kampf der Tugend“.
[Der vorliegende Text ist die Überarbeitung eines Manuskriptes aus dem Jahre 1974.]
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde von ihm genehmigt.
[Stand: 15.05.2024]