Die Jugend

Von Johanna Maria Elisabeth Merck (1763)

Von dir, du schönste Zeit des menschlichen Lebens, holde Jugend, von dir will ich reden, und deine Anmuth mahlen, da du mir selbst noch lächelst. Die Rosen der Wangen blühen noch. Soll ich ihre süße Gerüche ohneingeathmet verfliegen lassen? Nein ich will in mich selbst, als auch in die Schaar der jugendlichen Freuden einen ernsten Blick thun, um meine Thaten, wie auch ihren Werth prüfend zu beschauen.

Das Kind, das den ersten Blüten, wenn sich die Knospen anfangen zu öfnen, ähnlich, erscheinet. Es wird gebohren, und sein Daseyn ist einem flüchtigen Morgentraum gleich. Jahre und Tage eilen zurück, ohne daß sie gekannt und benutzt werden. Kindische Spiele, Schlaf und die Leere des ersten Auftritts rauben die kostbare Zeit, bis sich die kommende Vernunft entwickelt, und die Neigungen fester werden. Hier, wo die Erziehung am aufmerksamsten seyn sollte, ist sie vorbeyrauschend, und der unseelige Trieb zu dem Laster überwieget die hervor schimmernde Tugend. Voll Eigenwillen, ohne ihn als ein Laster zu kennen, wächst das Kind dem Jüngling zu. So verderbt ist die erste Scene des Menschen!

In Wissenschaften geübt, ohne die Seele derselbigen, die Gottesfurcht, und der heilsamen Erkenntniß des Guten eifrig nachzueilen, kommt der Jüngling auf die Bühne. Sein Wissen in Sprachen, die Arbeit des Gedächtnisses hat in dem Verstande eine große Leere gelassen. Glücklich ist er, wenn nun jede Stunde des Frühlings benutzt wird, um in ihr auszusäen, daß dereinst eine geseegnete Ernte erfolgen kann.

Nun umwölken die Leidenschaften die Vernunft des Jünglings, und berauben ihr öfters dieses große Kleinod mit dem Nebel des Lasters. Stolz, Begierde nach Ehre, treten hervor. Entblößet von dem edlen Triebe dieser Affekten ist es der wilde Ehrgeitz, welcher in Schanden wühlet. Die Wollust, die niedere Beherrscherinn der Jugend, fesselt des Jünglings Busen: Er raset in dieses Laster und nennet es mit dem schmeichelhaften Namen, Liebe. O unseeliges Laster! wo die Unschuld nebst der glänzenden Tugend einem betäubenden Affekte aufgeopfert wird. Hier ist der Rand des Verderbens.

Ja hier ist es, wo ein Mehlthau die blühende Rose vernichten kann; da sey standhaft, Jüngling, um den ersten giftigen Anreizungen einer versteckten Schlange zu widerstehen, oder du trittst in das verderbliche Netz des Lasters. Doch wie wenige widerstehen diesem ihrem inneren Feinde standhaft?

Du blühende Jugend! Der Himmel gab dir ein empfindliches Herz zu der Tugend, dieser Edlen weihe dasselbige, ohne es mit dem Laster befleckt zu haben. Die Liebe, das Gewürz des Lebens, genieße dereinsten mit einer dir gleich fühlenden Freundinn, auf welcher Stirne Unschuld und Tugend wohnen. Warum soll bey dem Jünglinge die niedere Ausschweifung kein Laster seyn, da sie bey dem anderen Geschlecht eine Schande ist? Elender Kunstgrif des Lasters, um ein ganzes Geschlecht in sclavische Fesseln zu legen. Ein liebenswürdiger Joseph rufet dir, Jüngling, zu: Folge meinem Beyspiel, sey standhaft in der Tugend, welche dich nach dem Triumph himmlisch bekrönen wird. O komme hernieder, du in unseren Zeiten verdrängte Tugend, du reiner Schmuck des Himmels, bewohne die Jugend und finde in ihr deinen liebsten Sitz. Feure sie an, voll edlen Stolzes nach grossen Thaten zu ringen; voll reiner Ruhmbegierde zu den Vollkommenheiten der erhabenen Weisheit zu steigen; in heiligem Eifer nach der Erkenntniß der seeligen Religion zu forschen und in den Ausübungen ihrer Gebote die sanfte Ruhe zu schmecken. Welch ein Ruhm, Jüngling und Christ zu seyn! Mäßige die wilden Leidenschaften, daß die Herrschaft der sinnlichen Ergötzlichkeiten von dem Jüngling dich, Tugend, nicht verjagen. Durch dich geheiliget sind alle Vergnügungen der Jugend eine Freude des Himmels. Ja laß, du göttliche Schöpferinn der Frölichkeit, den Jüngling unbefleckt in keuschen Empfindungen die Liebe fühlen, und alle Schätze der Natur, welche sie zu der Lust des Jünglings verschüttet, mit dankbarer Seele genießen. Goß nicht die Hand der Natur alle ihre Reichthümer aus, um ein Gegenstand des feinen Gefühls der Jugend zu seyn? Umsonst lächelt. ihr der bunte Frühling nicht, und athmet aus dem blühenden Hein ihr seine entzückensten Gerüche entgegen. Bist du nicht ein Bild seiner Pracht, muntere Jugend? Benutze auch die vorzüglichen Kräfte, welche der Schöpfer zu höheren Endzwecken in diese Jahre legte, in die Jahre, wo Feuer, Gefühl und Kräfte mit einander vereinbart arbeiten können.

Alle Vollkommenheiten dieser Welt ist der Mensch fähig zu erlangen. Durch den Verstand, die Tiefen der Weisheit zu erforschen; mit Augen, welche schwächer als des Adlers seine sind, durchlauft er die Gestirne, mißt die Größen von denselbigen, zählet die Menge und formet sich eine Idee der Geisterwelt, ob zwar die Gewißheit der inneren Beschaffenheit derselbigen ihm ein Räthsel bleibt. Durch die Kraft seiner Seelen gehet er in verflossene Jahrhunderte, beurtheilet die Thaten der Sterblichen und ziehet sich aus allen vergangenen Auftritten den schönsten Vortheil. Er steiget in die Zukunft, ja er klettert oft bis zu der Ewigkeit – – und dennoch will er diese großen Vorzüge der Menschheit nicht zu dem Nutzen seines gegenwärtigen Lebens anwenden?

Jugend, alle Freuden, so verblendend sie dem sinnlichen Menschen scheinen, verschwinden, wenn sie von dem Laster geführet werden, und lassen Thränen und Reue zurück. Beherrscht die Tugend den Lenz des Lebens, säet die Jugend, nach des weisen Salomons Lehre, frühe ihren Saamen, und läßt des Abends nicht ab; welch ein seeliges Alter wird das Ende dieses Lebens schmücken! Ruhig, wie der Weise, und zufrieden, wie der Christ, wird der Greiß in den Jüngling zurück sehen, weil er seinen Ruhm in der Weisheit, der Frömmigkeit und der Beherrschung; aller Affekten jung gesucht hat. Die Zeit, so kostbar sie ist, wird oft entstellt von Thorheiten, ja gar von dem Laster, welchem die Larve der Unschuld zu dem Schirme dienen muß.

Auch du, mein Geschlecht, wie traurig blicke ich unter euch. Lasterhaft, stolz, neidisch, tändlend, niederträchtig wallet oft der größte Theil von euch dahin. Schämet euch vor dem Spiegel der Prüfung, ob euch gleich die schmeichelhafte Thorheit sagt, daß ihr schön, artig, ja göttlich wäret. Wie flohe eure Jugend dahin? Voll Fehler in der Auferziehung, voll Stolz über die Mine, die euch zu was edlers, als zu eurem Verderben gegeben wird: ja voll Schwachheiten, daß ihr Weisheit, Religion und Tugend verkennet; da doch die Kräfte eures Verstandes groß genug sind, alles, was edel ist, zu bewundern, und grossen Beyspielen gleich zu kommen. Bessert euch, um den Freund, welchem ihr zu der Gesellschafterinn gegeben werdet, zu beglücken; und dereinst eure Töchter edler zu bilden, und nicht nach eurem Vorbilde in wildem Leichtsinn aufwachsen zu lassen. Schönheit ohne Tugend ist ein taubes Nichts. Verstand ohne Weisheit ist ein Phantom. So werdet ihr in der Jugend eurer Jahre eine liebenswürdige Clementina und in dem Alter eine mit Ehrfurcht beherrschende Schyrley werden, wenn ihr, wie diese, die Furcht des Herrn eure Zierde, und die Weisheit eure Schönheit seyn lasset.

Gott! du gossest in meine Seele ein Gefühl des Guten, und einen Wunsch tugendhaft zu wandeln. Senke deine Gnade tief in mich herab, um allen Reitzungen des Lasters, allen Anlockungen meines Fleisches und Blutes, und denen Verführungen der Welt, siegend zu widerstehen. Seegne meine Erkenntniß in der Religion, daß sie sich ausbreite, und die heiligsten Früchte hervor bringe. Erfülle meinen Wunsch in dem Forschen der Weisheit, und laß die Begierde, welche von dir, der Quelle der Weisheit, kommt, wachsen, und in sich ihre seelige Nahrung finden.

Die Schönheit der Natur mit der Anmuth, welche du für mein Gefühl erschufest – Alle Reize der Künste, welche du durch die Weisheit, die du in die Künstler legtest, liessest schimmernd hervor steigen – Ja alle Vorzüge dieses Lebens lasse mich geniessen, doch nicht, ob sie gleich scheinen mein ganzes Vergnügen zu bilden, ohne die sanfte Herrscherinn der Seelen, die Tugend und die seeligmachende Religion.

Freygeist, spotte, wirf mich zu den Thoren und Unweisen. Wie glücklich bin ich, wenn du mich verläßest, und wie seelig, da mich niemals dein ansteckendes Gift getroffen hat! Rase deine Jugend dahin, und glaube, alle Triebe deines lasterhaften Herzens lebten in dir, um ausgeübet zu werden. Dieses dein Leben wird dir, ehe es ein Ende hat, schon die Falschheit deines Glaubens zurufen, und dein Tod, wie schreckbar wird er seyn, wenn er dir die Namen, Gericht, Hölle, Ewigkeit, mit Donnerstimme entgegen blitzet!

Unerschaffene Gottheit! Laß mich keinen Tag meiner Frühlingsjahre zurück legen, ohne in demselben Blumen der Weisheit gesammlet zu haben. Meinem Endzweck ähnlich, zu welchem du mich schufest, Allergütigster, laß mich mein Leben so benutzen, daß ich in ihm das Glück der Ewigkeit befördere.

Ewiger! Reiße den Schleier von dem von Vorurtheilen blödsichtigen menschlichen Geschlecht, und mache die ganze Jugend der Erden zu edlen und tugendhaften Christen.

Erstveröffentlichung:

Johanna Maria Elisabeth Merck, Versuche in prosaischen Stücken, Erste Sammlung, Frankfurt und Leipzig, 1763, S. 97-105.

[Stand: 15.03.2024]