Über eine Alsfelder Dichterin des vorigen Jahrhunderts

Von PD Dr. Adolf Strack, Gießen (1893)

Johanne Marie Elisabethe Merk, geb. Neubauer, war die Tochter des 1732 nach Gießen berufenen Professors der Theologie Neubauer und seiner Ehegattin Karoline, geb. Benigne. Sie ist 1736 oder 1733 geboren; im Jahre 1748 verlor sie ihren Vater. Die Mutter verheirathete sich zum zweitenmale mit dem Gießener Professor Andreas Müller, der 1762 starb. Um das Jahr 1760 verheirathete sich Johanne mit dem Alsfelder Amtsphysikus Franz Christian Merk, einem Stiefbruder des bekannten Darmstädter Freundes Goethes. Sie starb am 5. November 1773. –

Im Druck erschienen sind von ihr zwei Gedichtsammlungen in den Jahren 1759 und 1760 unter dem Titel „Gedichte eines Frauenzimmers“. Sie wurden herausgegeben von dem Anneröder Schullehrerssohn Joh. Lampe, damaligem Kandidaten der Theologie. Ferner verfaßte sie vier Sammlungen von „Versuchen in prosaischen Stücken“, deren erste 1763 erschien. –

Die dichterischen Vorbilder Johannens waren Gellert, Klopstock, Creuz und Young; sie gehört der empfindsamen Richtung an. In ihren Dichtungen behandelt sie vor allem die Religion und zwar durchaus von bibelgläubigem Standpunkt aus. Trotz aller stark hervortretenden Frömmigkeit steht sie aber Lessing nah in ihrem Verlangen nach Duldung und dem Verwerfen jedes Religionseifers. Sie huldigt ferner stark dem Kultus der Freundschaft. In Versen und in Prosa verherrlicht sie diese „himmliche Freude edler Sterblichen“; und in zahlreichen Gedichten wendet sie sich an treue Freunde oder Freundinnen und preist das Glück, das ihr deren Zuneigung gewährt. Sie besingt endlich die Reize der Natur, auch darin einem Antrieb unserer neu aufblühenden Litteratur folgend. Sie ist eine der ersten, bei denen sich unsere moderne Mondscheinschwärmerei findet. In melancholischen Mitternachtsbetrachtungen ahmt sie Young nach. –

Wenn das Lob des Vaterlandes in ihren Dichtungen fehlt, so zeigt sie doch warme Begeisterung für Friedrich den Großen und in ihrer Auffassung des Kriegshandwerks und des Soldatenstandes steht sie Lessing nahe. –

Ihre heutige Unbekanntheit entspricht nicht ihrer temporären Bedeutung. Sie war zu ihrer Zeit eine moderne Dichterin im guten Sinne des Wortes und hat ihr bescheidenes Teil dazu geholfen, unsere klassische Blüteperiode vorzubereiten. Ihre Freunde nannten sie wohl die „deutsche Sappho“; der gewöhnlich mit diesem Namen beehrten Anna Luise Karsch, deren Namen auch heute noch bekannt ist, war sie an dichterischer Beanlagung mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen.

Erstveröffentlichung 1893:

Dr. Adolf Strack, Über eine Alsfelder Dichterin des vorigen Jahrhunderts (Johanne Marie Elisabethe Merck), in: Historische Quartalsblätter für das Großherzogtum Hessen, 1893 (2), Seite 341 f.

1894:

Dr. Adolf Strack, Über eine Alsfelder Dichterin des vorigen Jahrhunderts (Johanne Marie Elisabethe Merck), in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen (MOGV) (MOHG), 5. Jahrgang, Gießen 1894, S. 157-158.

[Stand: 14.04.2024]- [28.04.2024]