Die Liederbach

Von Prof. Dr. Eduard Edwin Becker, Alsfeld (1913)

Lustig plätschert durch die Straßen der Stadt Alsfeld die Liederbach, eins ihrer Wahrzeichen. Inspektor G. E. Happel hat in seiner Wahlpredigt von 1648 manche erbauliche Betrachtung an sie geknüpft; ein Ratsprotokoll vom Jahre 1632 nennt sie „ein Kleinodt der Statt“, und noch heute hält der eingesessene Alsfelder darauf, dass seine Kinder „aus der Liederbach“ getauft werden.

Ludwigsplatz – Die Liederbach fließt Richtung Obergasse
© Sammlung Karl Brodhäcker

Aus ihrer wechselvollen Vergangenheit wollen die nachfolgenden Zeilen einiges erzählen. Es waren wohl Gründe der Feuersicherheit, die die Bürger von Alsfeld bewogen, mit beträchtlichen Kosten den an der Stadt vorüberfließenden Bach in die Stadt zu kehren und zu leiten. Stolz aber auf ihr Werk erbaten sie sich von Landgraf Heinrich II., dass er alle Nutzung, die der Bach gewähre, der Stadt überließe. In der noch vorhandenen, unten abgedruckten Urkunde vom 3. September 1350 [03.09.1350] wurde ihnen dies Recht gewährt. Oft genug musste diese Urkunde herbeigezogen werden, um Eingriffe in das verbriefte Recht abzuwehren.

Es muss einst ein ziemlicher Reichtum an Fischen in dem Bach vorhanden gewesen sein; die Verfügung über die Fischerei stand nach Landgraf Heinrichs Bewilligung der Stadt zu. Mitten in den Wirren des dreißigjährigen Kriegs am 2. August 1630 [02-08.1630] ließ aber der Amtmann Schetzel von Merzhausen den Wehrbaum in der „Leidenbach“ enzweihauen und „feuschen“. Wohl ließ die Stadt sofort einen neuen Wehrbaum am 10. August legen und übte auch feierlich das Recht des Fischens aus. Zwei Jahre später aber wiederholte der Amtmann seinen Versuch, nahm denen, die gefischt hatten, die Fische ab und ließ sie, ohne sich um die Widerrede des Bürgermeisters M. Peter Böckingk und des Ratsmitglieds Jost Reichart zu kümmern, wieder in die „Leidderbach“ werfen. Die Beschwerde der Stadt zog sich lange hin. Amtmann Schetzel war gestorben, seine Witwe und Kinder aber hatten gleichfalls Anspruch auf die Fischerei erhoben. Augenscheinlich hielten sie sich, vielleicht als Besitzer des Hauses am Schützenrain, dazu befugt. Endlich traf der Spruch des Landgrafen ein; er lautet zu gunsten der Stadt, und feierlich wurde am 25. Juli 1638 [25.07.1638] das „alte Exercitium der Fischerei zur öffentliche Continuation gebracht“ in Anwesenheit des Bürgermeisters Jost Reichart und des Baumeisters Bartholt Friederich.

Doch das war nicht der letzte Streit um die Liederbach. Ein dickes Bündel Akten von 1694 an bis ins 19. Jahrhundert lässt uns einen Blick tun in die immer neu ausbrechenden Streitigkeiten vor allem um das Wässerungsrecht aus der Liederbach. Bald waren es die vornehmen Besitzer des Schützenrains, die einen Anspruch darauf machten, bald waren es die Besitzer der „Futterlappen“ vor dem Fuldertor, die auf bequeme Weise ihrem Gras das erquickende Nass zuführen wollten. Aber eifersüchtig wahrte die Stadt das Privileg Landgraf Heinrichs gegen jede Schmälerung und Beeinträchtigung.

Den älteren Bewohnern Alsfelds ist noch in guter Erinnerung die Sitte des „Räumens der Liederbach“. Mit der „Kühschelle“ wurde das Zeichen gegeben, dann zog alt und jung hinaus mit Spaten und anderen Werkzeugen, wie zu einem Volksfest. Dass es schon vor 400 Jahren ähnlich zuging, zeigt uns ein altes Protokoll aus der Zeit von etwa 1500 bis 1520.

„Alle Jar pleget man dy Lyderbach zu rümen und fegen in der gemeynt Wochen und uf den Sontag darvor sal man dy Stormglogk [01] luden, dem Folk zuvor kondigen dorch eyn Borgemister, willicher des Jars gekorn ist.

Item es sal eyn Statknecht uf dem Phade steen, doruf dy Lyderbach geet, dem Folk, das zum Menczer Tor uß geet, gebeyten, zum Borgemister by das Nebigerßlach [02] zu kummen. Da sol eyn Borgemister ye eyn Hoberman ober eyn Rode [03] setzen und 5 ader 6 Meyde und Frawen darbye, sal eyn Bumister fortan setzen und forn unnen henüff vort an und also alle Roden besetzen. Mit sollicher Wyß komt man reyß [04] dorvon.

Item der Raet haet von sollicher Erbeyt 4 Halbe Wynß [05] und dy Knecht och 4 Halbe Wynß; sollich Halbe leget man zusammen und plegens mit eyn zu vordrinken.

Item dy Liderbach ist der Stat Alsfelt, dormit zu don [06] und zu lassen, bis sie in dy Schwalm flyst, na Luet [07] Bryf und Segel von eynem Forsten von Heßenn dorober geben.

Item nimant ist der Lyderbach frye, wans noet ist, he sye Prister, Edel- ader Forman, als nymant nßgeschyden bey der Boeß 5 Schilling Phennige.“

Beilage: Landgraf Heinrich II. erteilt der Stadt Alsfeld das Recht der Nutzung über die Liederbach.

Wir Heinrich von gots gnadin lantgrebe zu Hessin bekennin offinlichin an disem briefe: sint dem male daz unser liebin getruwin burger zu Alsfelt des kost und erbeit habin, daz die Lyderbach daz wasser in die stad zu Alsfelt gekart und geleidin wirt, daz wir in des wol gunnin, waz sie des selbin wassers geniessin mugin, wan ez mit unserim gudin willin ist, und geben yn des disin (brief) von unsir und unsir erbin weine vestlichin besigelt nach gots geburt druzen hundert jar in dem vumfzegisten jare an dem fritage vor unsir frowin tage als sie geborin wart. (1350 September 3).

Pergamenturkunde. Siegel hängt zerbrochen an.

Anmerkungen:

[01] Es ist die Vorgängerin der jetzigen Sturmglocke, die erst 1545 gegossen wurde. Mitt. II 44.

[02] Das Nebigerßloch spielt auch beim Flachsbrechen eine Rolle. Vielleicht weiß ein älterer Mitbürger darüber Bescheid.

[03] Je einen Obermann über eine Rotte.

[04] rasch.

[05] Noch heute erhalten die Mitglieder des Gemeinderats eine Vergütung für das „Fegen der Liederbach“

[06] tun.

[07] nach Laut.

Erstveröffentlichung:

Eduard Edwin Becker, Die Liederbach. in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsverein der Stadt Alsfeld, 4. Reihe, Nr. 4, 1913, S. 30-32.

[20.02.2024]