Fachwerk nicht gleich Fachwerk
Bei genauem Hinsehen zeigen sich in der Modellstadt die Unterschiede

Von Dieter Dimroth, Alsfeld (1985)

Fast alle Häuser in der Alsfelder Altstadt sind Fachwerkhäuser, d.h. sie bestehen aus einem tragenden Holzskelett und dazwischen eingebauten unterschiedlichen Materialien, die Wände und Decken schließen. Weil sie alle nach diesem gleichen Prinzip gebaut worden sind, haben sie in ihrem äußeren Erscheinungsbild auf den ersten Blick sehr viel Ähnlichkeit. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich aber auch deutliche Unterschiede, die außer auf Zweckbestimmung, Lage, Finanzkraft des Bauherrn und viele andere individuelle Besonderheiten auch Rückschlüsse auf die jeweilige Bauzeit zulassen. Gerade diese Vielfalt der Gestaltung innerhalb des durch die konstruktionsbedingte Einheitlichkeit gesetzten Rahmens macht den besonderen Reiz vieler Fachwerkstädte aus, und Alsfeld ist ein hervorragendes Beispiel dafür.

Ständerhaus, Hersfelder Straße
© GFA

Die konstruktive und gestalterische Entwicklung der Fachwerkbauweise verläuft nicht parallel zu der in der Kunstgeschichte üblichen Einteilung in Epochen wie Gotik, Renaissance, Barock, die kunsthistorische Forschung hat sich überhaupt erst in den letzten 50 Jahren zunehmend mit dem Thema Fachwerk, d.h. mit den Häusern der einfachen Leute, ernsthaft auseinandergesetzt.

Nach Heinrich Walbe, dem ein großer Teil des heutigen Wissensstandes über Fachwerk in Hessen zu verdanken ist, ist es üblich geworden, die Fachwerkentwicklung in zeitlichen Entwicklungsstufen zusammenzufassen, die unabhängig von den Kunstepochen nur die Fortschritte in den Fachwerkkonstruktionen berücksichtigen: Mittelalter (bis ca. 1470), Übergangszeit (1470 bis 1550) und Beharrungszeit oder Neuzeit (etwa 1550 bis gegen 1800).

Als weitere Epoche wären die mehr und mehr von Ingenieurswissen geprägten Nutz- und Zweckbauten des 19. Jahrhunderts sowie die historisierenden Fachwerkbauten der Gründerzeit und der Jahrhundertwende anzufügen, denen allerdings von Fachkreisen bis heute wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Die Altstadt von Alsfeld enthält für alle Epochen der Fachwerkentwicklung hervorragende Beispiele, von denen hier jeweils eines etwas näher betrachtet werden soll.

Mittelalter

Das am besten bekannte mittelalterliche Fachwerkhaus in Alsfeld ist das „Ständerhaus“ in der Hersfelder Straße 10/12. Wesentlichstes Konstruktionsmerkmal der „Ständerbauweise“ ist zunächst das Vorhandensein vom Sockel bis zur Traufe durchgehender senkrechter Hölzer. Im Falle des Ständerhauses sind dies auf jeder Längsseite sieben über neun Meter lange Ständer mit einem Querschnitt von ca. 30/30 cm, je eine Mittelsäule in den beiden Giebeln und weitere Ständer im Inneren des Hauses. Diese Ständer stehen – soweit noch vorhanden bzw. bei der Sanierung der Haushälfte Hersfelder Straße 10 rekonstruiert – ohne Schwelle unmittelbar auf dem gemauerten Bruchsteinsockel. Der Ständerabstand ist vergleichsweise sehr groß: er beträgt an den Traufseiten rund 2,50 m.

Typisch für die Zimmermannskunst dieser Epoche sind außerdem die diagonalen Verschwertungen, die teilweise ebenfalls über die gesamte Wandhöhe durchgehen, die weit auskragenden Obergeschosse an der Straßenseite mit ihren Hängepfosten und Knaggenverriegelungen sowie die Art der Holzverbindungen, die überwiegend in Form der sogenannten Überblattungen ausgeführt wurden.

Alsfelder Rathaus
© GFA

Übergangszeit

Prominentes Beispiel für Bauten der Übergangszeit ist in Alsfeld natürlich das Rathaus. Der Bau der Obergeschosse auf dem Sandsteinsockel wurde in den Jahren 1514 bis 1516 ausgeführt. Die Zimmerleute schufen hier bereits einen regelrechten „Rähmbau“ mit zwei Oberschossen und drei Dachgeschossen. Dabei werden nur noch geschoßhohe Ständer oder Pfosten verwendet, die unten auf einer Schwelle stehen und auf denen oben ein Rähm genanntes Holz aufgelegt ist. Auf diesem Rähm liegen die sichtbaren Deckenbalken, die Zwischenräume sind durch profilierte Füllhölzer geschlossen, und darüber liegt dann wieder die Schwelle des nächsten Geschosses.

Eine konstruktive Besonderheit stellen die geschoßhohen, leicht gekrümmten Streben dar, die zwischen Schwelle und Rähm eingezapft sind. Diese Konstruktionsform hat sich in der Übergangszeit von Alsfeld ausgehend in Oberhessen zeitweise durchgesetzt und schließlich das Fachwerk des 19. Jahrhunderts geprägt.

Stumpf-Haus
© GFA

Neuzeit

Als Beispiel für ein Fachwerk der Neuzeit oder Beharrungszeit soll das sogenannte Stumpfhaus am Marktplatz Nr. 6 aus dem Jahre 1609 angeführt werden. Das zweite Obergeschoß des Giebels zur Mainzer Gasse zeigt die ab dem 17. Jahrhundert häufigste Verstrebungsform: an den Gebäudeecken lange Fußstreben zwischen Schwelle und Eckständer und ein kurzes Kopfband zwischen Eckständer und Rähm, an einem Bundpfosten etwa in der Mitte des Hauses eine Verdoppelung dieser Strebenanordnung, woraus zusammen mit dem durchlaufenden Riegel der sogenannte „Mann“ oder auch „wilde Mann“ entsteht.

Die Rähm-, Füll- und Schwellhölzer sind reich profiliert und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Zopf-, Blatt- und Stabornamenten verziert. Dazu kommen viele weitere Schmuckelemente wie Profilierung der Balkenköpfe, ornamentale Brüstungsstreben und nicht zuletzt die geschnitzten Eckpfosten, die gerade an diesem Haus teilweise figürliche Darstellungen aufweisen.

An der prominentesten Ecke seines Hauses, dem Schnittpunkt von Mainzer Gasse, Baugasse und Marktplatz, gegenüber dem Hochzeitshaus, hat sich der Erbauer, Bürgermeister Jost Stumpf, nahezu in Lebensgröße selbst abbilden lassen, und von dort blickt er seit 1609 auf die Ereignisse auf dem Marktplatz herab.

Erstveröffentlichung:

Dieter Dimroth (Leiter des Bauamtes der Stadt Alsfeld), Fachwerk nicht gleich Fachwerk, in: Sonderbeilage der Oberhessischen Zeitung zum 25. Hessentag in Alsfeld, 25.05.1985.

Vertiefungsliteratur:

Heinrich Walbe, Das hessisch-fränkische Fachwerk, Verlag der Brühlschen Universitätsdruckerei, Gießen 1954, 2. Auflage 1979.

[Stadt: 08.04.2024]