Von Axel Haltenhof, Alsfeld (11.03.2023)
Wir „feierfreudigen Alsfelder“1) jubelten neun Jahre zu früh, denn das Fest der Stadtgründung vor 800 Jahren ist erst für das Jahr 2031 zweifelsfrei urkundlich nachweisbar. Wir haben 2022 eine 1922 begonnene Tradition fortgesetzt, die geschichtswissenschaftlich nicht gerechtfertigt ist. Wie konnten wir übersehen, dass die vielzitierte Urkunde2) vom 13. März 1222 nicht herangezogen werden darf, um die Stadtwerdung Alsfelds zu bezeugen?
Diese Frage verlangt nach einer Antwort, orientiert am Diktum unseres geschichtskundigen Bürgermeisters, wonach die Lokalgeschichte „ebenso wie die große Weltgeschichte einen Anspruch auf Präzision“3) hat.
Schauen wir uns die lateinisch geschriebene vermeintliche „Geburtsurkunde“ 4) unserer Stadt genau an. Am 13. März 1222 befasste Wezzilo von Nidda in Begleitung seiner Frau Sophia und der drei Kinder das Grünberger Stadtgericht mit der Beurkundung einer Güterschenkung. Das Gut der Familie in Hörgern sollte der Kirche des Zisterzienserordens in Arnsburg übertragen werden. Um dem Vergessen oder einem Rechtsstreit vorzubeugen, wurde eine Urkunde verfasst, mit dem Siegel der Stadt Grünberg versehen und mit der namentlichen Nennung von Zeugen bekräftigt.
Drei der vor Gericht anwesenden 24 Zeugen, die in der Urkunde abgestuft nach der gesellschaftlichen Bedeutung aufgeführt sind – vom Priester Christian (Cristianus sacerdos) an erster bis zum Schüler Dittmar (Ditmarus scolaris) an 24. Stelle –, werden in Verbindung mit der Ortsangabe Alsfeld (Adelsfelt) genannt. Auf Platz 13 und 14 lesen wir „Siboldus et Fridericus filii Siboldi de Adelsfelt“ (Sibold und Friedrich von Alsfeld, die Söhne des Sibold). Dieser Eintrag ist in Bezug auf unsere Fragestellung ohne Belang, da Berufs-, Amts- oder Funktionsbezeichnungen, die auf die Existenz einer Stadt hindeuten könnten, fehlen.
Wichtig ist allerdings der an 7. Stelle erwähnte „Sifridus scabinus de Adelsfelt“. Von Brockhusen, Marburger Historiker und Fachmann für Landesgeschichte, verweist auf die Bedeutung der „lateinischen Wortstellung“1) (Name – Amt/Funktion – Herkunftsort). Wir haben es mit einem aus Alsfeld stammenden Siegfried zu tun, der die Funktion eines Schöffen in der Stadt Grünberg ausübt. Die Präposition „de“ bezeichnet die Herkunft Siegfrieds – von bzw. aus Alsfeld stammend. Demgegenüber würde die Präposition „in“ (Sifridus scabinus in Adelsfelt) auf einen Schöffen in (der Stadt) Alsfeld verweisen. Das Amt des Schöffen (scabinus) oder die Kennzeichnung als Bürger setzen Stadtrechte voraus; Schöffen bzw. Bürger sind Stadtbewohner.
Von Brockhusen fasst sein Urteil, das er bereits 19625) begründete, wie folgt zusammen: „Wenn 1222 ein ‚Sifridus scabinus de Adelsfelt‘ als Urkundenzeuge in Grünberg auftritt, haben wir es […] nach der lateinischen Wortstellung wohl eher mit einem Siegfried aus Alsfeld, zur Zeit Schöffe in Grünberg, zu tun als mit einem Schöffen in Alsfeld selbst, und man kann […] immerhin ein wenig daran zweifeln, ob das Jubiläumsdatum derart hieb- und stichfest ist, wie es die feierfrohen Alsfelder selbst gar zu gern begreifen möchten. Erst 1231 haben wir einwandfrei die Bürger von Alsfeld vor uns […]“1).
Der Historiker Waldemar Küther, Archivar des Klosters Arnsburg, bestätigt die Auffassung, dass die 1222-Urkunde kein Beleg für den Stadtcharakter Alsfelds sein könne: „Es werden genannt ein Priester Christian […] und ein Schöffe Siegfried von Alsfeld. Wenn auch die Stellung dieser Zeugen im öffentlichen Leben der Stadt Grünberg nicht ausdrücklich genannt wird, so ist doch anzunehmen, dass auf Grund der Besiegelung durch die Stadt es sich bei diesen Personen um solche handelt, die mit Grünberg in Verbindung stehen, das heißt: der Priester Christian dürfte ein Grünberger Geistlicher gewesen sein, die folgenden weltlichen Personen Burgmannen und zum Schluss ein Schöffe. Die Besiegelung unter der Siegelbezeichnung Secretum lässt in diesen Personen die Mitglieder des Grünberger Stadtgerichtes erkennen.“ 6)
Gegen Ende seines langjährigen, verdienstvollen Forschens und Schaffens bestätigt der Alsfelder Historiker Herbert Jäkel die Urteile von Brockhusens und Küthers, wenn er 1997 schreibt: „[…] der städtische Charakter Alsfelds wird erst 1231 bezeugt.“ Und: „Das lange Zeit als ‚Geburtsurkunde‘ der Stadt Alsfeld angesehene Dokument wurde am 13. März 1222 ausgestellt. […] ‚Sifridus scabinus de Adelsfelt‘ […] und ‚Siboldus et Fridericus filii Siboldi de Adelsfelt‘ […] gehörten zu den angesehensten Grünberger Familien und waren […] Bürger, und zwar in Grünberg – sie stammten lediglich aus Alsfeld […].“7)
In der lokalhistorischen Literatur ist unbestritten, dass die 1231 ausgestellte Urkunde8) (Gütertausch zwischen zwei Klöstern) den Stadtcharakter von Alsfeld im vollen Rechtssinn bestätigt. Als Zeugen treten u.a. die Alsfelder Bürger (burgenses) Friedrich (Frethericus) und Konrad Kastellan (Conradus Kastelan) auf. Diese Urkunde ist, nach allem, was wir heute wissen, die eigentliche „Geburtsurkunde“ unserer Stadt.
Die 2012 vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld (GMVA) herausgegebene Rathaus-Festschrift vermittelt inhaltlichen Gleichklang mit Jäkel: „In den letzten Jahren ihrer Herrschaft [gemeint ist die der thüringischen Landgrafschaft; AH] wurden 1222 in einer Urkunde erstmals ‚Bürger‘ erwähnt, die aus Alsfeld stammten und in Grünberg Bürgerrechte besaßen.“ 9) Leider hielt die inhaltliche Harmonie nicht lange, denn in der ebenfalls vom GMVA herausgegebenen 800-Jahre-Festschrift klingt es konträr: „Als ‚Geburtsurkunde‘ für die Stadt Alsfeld gilt […] eine Urkunde vom 13. März 1222.“10). Ein bis dato unbegründeter Meinungswandel.
Fazit: Wir sollten bis spätestens 2031 Unstimmigkeiten in dieser Frage im Hegelschen Sinne aufheben und, orientiert am Bürgermeisterdiktum, versuchen, gelebte Alsfelder Tradition und historische Wahrheit zu synchronisieren.
Quellen / Literatur:
1) von Brockhusen, Hans Joachim: „Um Wappen und Siegel der Stadt Alsfeld“, in: GMV Alsfeld: Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, 1972, S. 53-64.
2) Urkunde vom 13. März 1222. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (zuvor: Fürstlich Solmsisches Archiv in Lich), HStAD Bestand A 14 Nr. 4850.
3) „Lokalhistorie wird präzisiert. Geschichts- und Museumsverein überarbeitet Informationstafeln an bedeutenden Gebäuden“, in: OZ, 16.12.2017.
4) Jäkel, Herbert: „13. März 1222“, in: GMV Alsfeld: Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, 1972, S. 51-52.
5) von Brockhusen, Hans Joachim: „Das älteste Alsfelder Siegel und seine Verwandtschaft“, in: Hessische Heimat, 12. Jahrgang, 1962, Heft 5/6, S. 19-21.
6) Küther, Waldemar: „Grünberg. Geschichte und Gesicht einer Stadt in acht Jahrhunderten“, hrsg. vom Magistrat der Stadt Grünberg, 1972.
7) Jäkel, Herbert: „Kleine illustrierte Geschichte der Stadt Alsfeld“, Alsfeld 1997, S. 15/16.
8) Urkunde 1231. Hessisches Staatsarchiv Marburg, HStAM Bestand Urk. 18 Nr. 13.
9) GMV Alsfeld (Hrsg.): 500 Jahre Rathaus Alsfeld, 1512-2012, 2012, S. 18.
10) GMV Alsfeld (Hrsg.): Alsfeld. 800 Jahre Stadtgeschichte. 1222-2022, 2022, S. 9.
Erstveröffentlichung:
Oberhessische Zeitung am 11.03.2023, „Stadtjubiläum neun Jahre zu früh gefeiert“ (Die vom Autor eingereichte Textvorlage wurde von der OZ-Redaktion formal leicht geändert.)