Von Hermann Bender, Alsfeld (1964)
„Vom Himmel hoch, da komm ich her,
ich bring euch gute neue Mär …
(Dr. Martin Luther)
Die Weihnachtssitte „Christkindwiegen“, die in Wien in einem Frauenkloster entstanden sein soll, wird in Deutschland nur noch selten gepflegt. Diese alte Sitte ist nicht in einem geschlossenen Raum, sondern im Freien durchzuführen. Von einer Höhe herab, im Lichterschein, soll alljährlich am Heiligen Abend, die Geburt des Heilandes im Gesang unterstützt von Trompeten- und Posaunenmusik verkündet werden.
Die Bezeichnung „Christkindwiegen“ bedeutet wohl soviel wie der Beginn (die Wiege) der großen Hoffnung, die der Menschheit mit der Geburt des Heilandes, in der heiligen Nacht, von Gott geschenkt wurde. Für ein kindliches Gemüt war in Alsfeld stets damit verbunden, die auf dem Turm stehende goldene Wiege in der das Christuskind liegt, das von den Männern nun in den Schlaf gewiegt wird.
In welchem Jahr diese Weihnachtssitte in Alsfeld eingeführt wurde ist nicht mehr festzustellen. Vor dem Jahre 1542 dürfte es nicht gewesen sein, denn zu dieser Zeit besaß der Turm der Walpurgiskirche noch keinen Turmumgang. Es spricht aber manches dafür, dass das Christkindwiegen schon bald darauf, d.h. nach dem damaligen Turmumbau, eingeführt wurde und zwar von dem Alsfelder Collegium musicum. Dieser alte und einst so beliebte Kirchenchor führte diese Weihnachtssitte durch die Jahrhunderte hindurch weiter, bis zum Jahre 1848, wo seine Auflösung herannahte.
Im Jahre 1849 wurde das „Christkindwiegen“ von den Sängern des „Liederkranz“ übernommen und so weitergeführt, wie man es von alters her gewohnt war. So wie viele deutsche Sitten und Bräuche landschaftlich verschieden durchgeführt werden, ist es auch bei der Weihnachtssitte, „Christkindwiegen“.
In Alsfeld hat man wohl den Glauben an die heilige Dreifaltigkeit damit verbinden wollen. Sänger und Bläser erscheinen dreimal auf dem Turmumgang, die Weihnachtsgesänge werden stets nur an drei Turmecken durchgeführt. Dem ersten Weihnachtsgesang, dem „Verkündigungsgesang“, mit dem Choral „Vom Himmel hoch da komm‘ ich her“ um 17:00 Uhr (früher 19:00 Uhr), folgt eine Stunde später der Lobgesang, „Lobt Gott ihr Christen allzugleich“ und schließlich, wiederum nach einer Stunde, endet diese Weihnachtssitte mit dem Dankchoral „Ehre sei Gott in der Höhe“.
Die Sänger erscheinen stets mit ihren windsicheren, sechseckigen sogenannten Sängerlaternen, einer Konstruktion, die auch bei starken Windstößen das Licht nicht zum Verlöschen bringt.
Seit dem Jahre 1901 (Einführung der elektrischen Beleuchtung in Alsfeld) ist auf dem Turmumgang ein mächtiger Tannenbaum mit bunten Glühbirnen angebracht, in neuester Zeit sind es zwei Tannenbäume. Zum Alsfelder Christkindwiegen gehörten früher auch einführendes Glockengeläute und nach dem ersten Weihnachtsgesang ein Trompetensignal vom Turm, das der Bevölkerung aufgab, in den Familien nunmehr die Kerzen an den Christbäumen anzuzünden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist beides aufgegeben worden. Es ist die Frage wohl nicht unberechtigt, ob einführendes Glockengeläute und Trompetensignal vom Turm nicht doch wieder aufgenommen werden sollten (letzteres nur erinnerungshalber, um diese jahrhundertealte Weihnachtssitte möglichst unverändert aufrechtzuerhalten).
Die je dreiviertelstündigen Pausen zwischen den Weihnachtsgesängen verbringen Sänger und Bläser in den Räumen der ehemaligen Türmerwohnung. Seitdem die Sänger des Liederkranzes diese Sitte fortführen, sind in diesen Pausen Gewohnheiten entstanden, die zur Tradition des „Christkindwiegens“ gehören.
Der erste Vorsitzende begrüßt besonders die erschienenen Gäste und wünscht Sängern und Gästen ein gesegnetes Weihnachtsfest. Seit dem letzten Weltkrieg waren als Gäste u.a. erschienen: Offiziere der amerikanischen Militärregierung und wiederholt eine Gruppe holländischer Gäste. Seit seinem Amtsantritt in Alsfeld hat Bürgermeister Georg Kratz in jedem Jahr die Sänger auf dem Turm begrüßt. Auch Landrat Dr. Mildner ist am Heiligen Abend mehrmals auf den Turm zu den Sängern und Bläsern gekommen.
Auf die Begrüßung erfolgt die Ehrung solcher Sänger, die mindestens vierzigmal am Christkindwiegen teilgenommen haben. Dem Chorleiter wird ein Weihnachtsgeschenk überreicht. Allen denjenigen, die Spenden zur Deckung der entstandenen Kosten gegeben haben, wird hierfür herzlichst gedankt.
Schließlich folgt ein Kurzvortrag über ein Thema aus Alt-Alsfelds Vergangenheit. In der zweiten Pause nehmen Sänger und Bläser einen kleinen Imbiss ein, dazu einen guten Korn, denn auf dem Turmumgang ist es kalt. Mit Singen von Weihnachtsliedern geht auch diese Pause zu Ende. Nachdem der Dankchoral auf dem Turmumgang verklungen ist, eilen Sänger und Bläser vom Turm herab zu ihren Familien. Das schönste und innigste aller christlichen Feste hat in Alsfeld mit dem „Christkindwiegen“ begonnen.
Mit welcher Liebe und Treue Sänger und Bläser das „Christkindwiegen“ alljährlich pflegen, obwohl gerade am Heiligen Abend dies gegenüber der Familie ein Opfer bedeutet, dafür ließe sich manches sagen. Als Beispiel sei hier der verstorbene Schreinermeister Valentin Weppler angeführt, der 61 Mal, und zwar ununterbrochen daran teilnahm und außerdem viele Jahre noch die Vorbereitungen zur Durchführung dieser Weihnachtssitte leitete.
Erstveröffentlichung:
Hermann Bender: Die Alsfelder Sänger pflegen die alte, deutsche Weihnachtssitte „Christkindwiegen“, in: Festschrift 125 Jahre Gesangverein Liederkranz-Harmonie, 125 Jahre Männerchorgesang in Alsfeld, 1964, S. 36-38.
[Stand: 01.01.2024]