Das Alsfelder Pfingstsingen

Von Hermann Bender, Alsfeld (1964) (ausführliche Fassung)

Im „Deutschen Sängerbuch“ (herausgegeben 1930) wird das Pfingstsingen als eine prächtige Sitte bezeichnet und es begrüßt, dass es von den deutschen Männerchören nunmehr ziemlich allgemein eingeführt worden sei. In Alsfeld war diese Sitte im Jahre 1930 aber schon längst zur Tradition des Vereins geworden, ohne dass den Alsfelder Sängern irgend ein Verein darin Vorbild gewesen wäre.

Es konnte bisher nicht urkundlich festgestellt werden, in welchem Jahr das Pfingstsingen in Alsfeld erstmals gepflegt wurde. Doch nach Lage der Vereinsverhältnisse ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dies in der Zeit geschah, als Hermann Bücking Präsident des Vereins war (1860/1867), wohl im Jubiläumsjahr 1864.

Doch nicht Präsident Hermann Bücking, sondern sein Vetter Caspar Gustav Bücking, passives Mitglied im Liederkranz, ist es gewesen, von dem der Gedanke ausging, alljährlich, in der Frühe des zweiten Pfingstfeiertages, den wieder erwachten Frühling mit Liedern zu begrüßen, zur Ehre Gottes und zur Freude einer Alsfelder Bevölkerung. Zur Durchführung des Pfingstsingens stellte Caspar Gustav Bücking seinen, damals terassenartig angelegten Garten, am Osthang des Frauenberges, Flur VII/113, zur Verfügung. Von diesem Garten ist eine besonders schöne Aussicht, weit über die Stadt hinaus, gegeben. Caspar Gustav Bücking, den die Alsfelder kurz den „Cege“ nannten (Abkürzung für Caspar Gustav), war damals eine überaus beliebte Persönlichkeit. Er war stets hilfsbereit, ausgleichend und empfänglich für alles Schöne und Gute. In den Revolutionsjahren 1848/1849 allerdings war er ein Streiter für die Sache der Demokraten gewesen.

Das Pfingstsingen fand stets in „Bückings-Garten“ statt. Nur einmal taten die Sänger ihrem Präsidenten, Hermann Bücking, den Gefallen, das Pfingstsingen in dessen Garten „Am Steinacker“ durchzuführen. Doch schon im nächsten Jahr sang man wieder an gewohnter Stelle des Frauenberges.

Die Durchführung des Pfingstsingens fand stets in der Frühe des zweiten Pfingstfeiertages statt. Dies kam daher, weil an ersten Feiertag in Alsfeld Konfirmation stattfand und außerdem der Liederkranz an diesem Tag (bis zum Jahre 1884) im Gottesdienst durch Vortrag von Chorälen mitwirkte.

In den ersten Jahren nach Einführung dieser Sitte versammelten sich die Sänger stets gegen 5.45 Uhr im Schulhof der alten Stadtschule (ehemaliges Übungslokal des Vereins) um dann, im geschlossenen Zug, nach Bückings Garten zu marschieren. Der so frühzeitige Beginn des Singens entsprach dem Wunsch des Initiators dieser Sitte. Bei einigermaßen günstigen Windverhältnissen konnte der Gesang im oberen Teil der Stadt gehört werden, wo es, in jener Zeit, zu so früher Stunde, noch fast lautlos stille war. Es ist überliefert, dass sich aber stets eine ansehnliche Zahl von Zuhörern am Friedhof und seiner Umgebung einfanden.

Der Pfingstgesang begann immer mit einem Choral, dann aber folgten eine Stunde lang Frühlings-, Volks- und Heimatlieder. Seit dem Jahre 1879 wird den Sängern in einer Pause ein kleiner Imbiss gegeben, dazu ein Glas Branntwein oder Flaschenbier.

Im Ersten Weltkrieg wurde unter den Sängern der Wunsch laut, den Choral nicht mehr in Bückings-Garten, sondern auf dem Friedhof und dort unter der alten Linde (im Jahre 1958 unerwartet geborsten) zu singen. Der diesbezügliche Vereinsbeschluss, der unter dem Eindruck der vielen Opfer, die dieser Krieg forderte, zustande kam, lautete: „Der Choral soll dem Gedächtnis der Toten ringsum gewidmet sein.“

Als nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Friedhof ein Ehrenmal für die Gefallenen und Kriegsvermissten errichtet worden war, folgte dem Choral auf dem Platz der ehemaligen alten Linde noch ein zweiter Choral vor dem genannten Ehrenmal. Wenn einmal bei Beerdigung eines Sängers der übliche Grabgesang nicht stattfinden konnte, begaben sich die Sänger nunmehr an das Grab ihres verstorbenen Sangesbruders, um ihm nun den letzten Scheidegruß zu singen (die Hinterbliebenen wurden davon benachrichtigt).

Erst jetzt begaben sich die Sänger in Bückings-Garten, um dort ihre Lieder über die Stadt erklingen zu lassen.

Nach Ende des Pfingstsingens geht es gewöhnlich zu einen gemütlichen Frühschoppen. Es war einmal angeregt worden, das Pfingstsingen auf dem Frauenberg in der Stadt auf Straßen und Plätzen fortzusetzen, um damit den Gesang einer noch größeren Zahl von Menschen zu vermitteln. Die übergroße Mehrzahl der Sänger lehnte jedoch diesen Vorschlag als unangebracht ab. Neuerdings würde bereits der ständig zunehmende Straßenlärm diesen Vorschlag kaum durchführen lassen. Doch wäre es wohl eine schöne Ergänzung des Pfingstsingens, wenn der Verein anschließend am Kreiskrankenhaus, oder am Altersheim, passende Chöre singen würde.

Es sei dankend hervorgehoben, dass auch die nachmaligen Besitzer des Grundstücks, Flur VII/113, die alte Sitte des Pfingstsingens achten. Die unverheiratet gebliebene Tochter des Caspar Gustav Bücking, Fräulein Emilie Bücking, hatte im Sinne ihres Vaters stets gern diese Sitte auf ihrem Grundstück gestattet. Auch der derzeitige Eigentümer, Heinrich Köhler, der dieses Grundstück gärtnerisch nutzt, achtet diese Pfingstsitte, so dass sie auch heute noch an gleicher Stelle durchgeführt werden kann, an der sie einst begann.

Als der Initiator des Alsfelder Pfingstsingens im Jahre 1889 gestorben war, gaben ihm auch die Sänger das Grabgeleit und sangen an seinem Grab Choräle: Dabei wurden nachstehende Dankesworte gesprochen, die ein Sänger des Liederkranz verfasst hatte und die auch im Alsfelder Kreisblatt erschienen waren.

Im Rahmen der Jubiläumsfeiern, zum 75-jährigen Bestehen des Vereins, fand gelegentlich des Pfingstsingens eine kleine Gedenkfeier zum 100-jährigen Bestehen dieser Sitte statt. Dabei wurde gleichzeitig auch dem 75-jährigen Todestag des Caspar Gustav Bücking an dessen Grabstätte gedacht und in der Ansprache auch jene Dankesworte wiederholt, die am 15. Januar 1889 (Tag des Begräbnisses) an seinem Grabe gesprochen wurden. Sie seien nachstehend wiedergegeben:

„Alsfelds großer Bürger ist gestorben,
trauernd fühlt es heut die ganze Stadt,
in dessen Mauern er sich längst einen Ehrensitz erworben,
durch des edlen Herzens reicher Tat.

Unentwegt, der Freiheit treu ergeben,
hast du ritterlich allhier gekämpft,
und in deinem vielbewegten Leben
manche Leidenschaft und Streit gedämpft.

Warst den Armen stets ein guter Vater,
deinen Freunden liebevoller Gast,
der Gemeinde, als Berater,
halfst du lindern Not und tragen manche Last.

Hier, an deinem kalten, offenen Grabe,
wo dich tausend Freunde still umstehen,
schlagen Herzen heiß, voll innigem Dank.

(verfasst von dem langjährigen Alsfelder Lokaldichter, dem Schuhmacher und Feldhüter Georg Strecker, der dem Gesangverein Liederkranz als aktives Mitglied angehörte).

Hier die ausführliche Erstveröffentlichung:

Hermann Bender, Das Alsfelder Pfingstsingen, in: 125 Jahre Gesangverein Alsfeld. 125 Jahre Männerchorgesang in Alsfeld, 1839 bis 1964, Alsfeld 1964, S. VIII/1-VIII/4.

Kurzfassung:

Hermann Bender, 100 Jahre Alsfelder Pfingstsingen, in: Festschrift 125 Jahre Gesangverein Liederkranz-Harmonie, 125 Jahre Männerchorgesang in Alsfeld, Alsfeld 1964, S. 42-43.

[Stand: 15.05.2024]