Das Alsfelder Erlensingen

Von Hermann Bender, Alsfeld (1964) (ausführliche Fassung)

Im Jahre 1930 trat die Leitung des Deutschen Sängerbundes (DSB) an die Gesangvereine mit der Aufforderung heran, alljährlich, am letzten Sonntag des Monats Juni, einen „Deutschen Liedertag“ durchzuführen: Es sollten an diesem Tag die Gesangvereine in ihren Heimatorten vor die Öffentlichkeit treten und deutsche Lieder, insbesondere Volkslieder, der Bevölkerung darbieten. In den dazu herausgegebenen Richtlinien heißt es u.a. wörtlich: „Zweck der Veranstaltung ist, weitesten Kreisen des Volkes die Schönheit und schlichte Innigkeit des deutschen Liedes, insbesondere des Volksliedes und damit seine erhebenden und herzbildeten Werte durch ernsten und frohen Sang unter freiem Himmel wirksam zur Empfindung zu bringen. Der Liedertag soll mit dazu beitragen, wieder Freude und Lust am Singen in allen Schichten der Bevölkerung zu wecken: Das Volkslied soll wieder unter das Volk.“

Der Liederkranz war ohne weiteres bereit, dieser Aufforderung nachzukommen: So zogen denn am letzten Sonntag des Monats Juni 1930 die Sänger im geschlossenen Zug zum Marktplatz, um dort – von 11.00 bis 12.00 Uhr – entsprechende Chöre vorzutragen. Es hatten sich dazu zahlreiche Zuhörer eingefunden, die dem Chor, der unter Leitung von Lehrer K. Zoll stand, lebhaften Beifall spendeten. Im Laufe dieser Liederstunde hielt Lehrer Zoll an die Zuhörer eine kurze Ansprache, in der er darauf hinwies, dass unser Volk noch unter den Folgen des Krieges leide. Es sei dabei auch in Gefahr, seelische Werte zu verlieren, weil fremde Kultur auch vor der edelsten aller Künste, der Musik, nicht halt mache: Hiergegen einen Damm zu errichten, sei ein Zweck des „Deutschen Liedertages“. Die Oberhessische Zeitung schrieb zu dieser Veranstaltung u.a.: „Der Liederkranz darf mit berechtigtem Stolz auf den ersten wohlgelungenen Deutschen Liedertag zurückblicken, in der Hoffnung, ein Stück Volksbildungsarbeit geleistet und seinen Zuhörern eine genussreiche Stunde bereitet zu haben.“

In den Jahren 1931/1932 wurde die Liederstunde am letzten Sonntag im Juni ebenfalls am Marktplatz durchgeführt. In einer Vorbesprechung dazu hatte die Oberhessische Zeitung angeregt, bei solchen Veranstaltungen künftig doch auch die Zuhörer bekannte Weisen mitsingen zu lassen: Diesen verständlichen Wunsch wurde auch entsprochen.

Bald aber erkannten die Sänger, dass der Deutsche Liedertag in Alsfeld doch viel schöner und eindrucksvoller gestaltet werden könne, wenn volkstümlicher Chorgesang nicht mittags auf dem Marktplatz, sondern an einem Sommerabend „in den Erlen“ erklingen würde. Es blieb aber zunächst bei diesem Wunsch. Im Jahre 1933 (Machtübernahme der NSDAP) konnte der Liedertag in der vom Deutschen Sängerbund gewünschten Art nicht durchgeführt werden: Dem Liederkranz war eine Aufforderung des Vereins für das Volkstum im Ausland, Ortsgruppe Alsfeld, zugegangen, an einer Kundgebung, die „Volksdeutsche Weihestunde“ genannt wurde, mitzuwirken. Da diese Veranstaltung am letzten Sonntag des Monats Juni, von 11.00 bis 12.00 Uhr, stattfinden sollte, musste die Liederstunde am Marktplatz ausfallen. In der festlich geschmückten Wirtschaftshalle [Festhalle] am Lindenplatz waren u.a. auch die Parteigliederungen in stattlicher Zahl aufmarschiert: Der Liederkranz umrahmte diese Feier mit mehreren vaterländischen Chören. Der Sprecher der Ortsgruppe, Schulrat Walter, brachte in seiner Ansprache u.a. zum Ausdruck, dass der Marschtritt der NS-Formationen bald auch in den Städten des Sudetenlandes zu hören sein werde. Der Vorsitzende vom Liederkranz, Hermann Bender, sagte bei dieser Kundgebung u.a., dass das deutsche Lied, insbesondere das Volkslied, Gemeingut aller Deutschstämmigen in der ganzen Welt sein und bleiben müsse. Nachmittags trafen sich Liederkranz und Harmonie, sowie die Gesangvereine von Altenburg und Eudorf in der Wirtschaftshalle, um diesmal den Deutschen Liedertag als Freundschaftstreffen zu begehen.

Zu Ende des Jahres 1933 war die Sängervereinigung Liederkranz / Harmonie zustande gekommen. Im Jahre 1934 wurde der Deutsche Liedertag erstmals von den nun vereinigten Alsfelder Sängern begangen. Der Vorstand stand vor einer Entscheidung. Die Sänger wollten den Liedertag abends „in den Erlen“ durchführen. Dem aber stand die Anordnung des HSB entgegen: „Die Liederstunde ist mittags auf Straßen und Plätzen durchzuführen.“ Es schien nicht ungefährlich, sich dieser Anordnung zu entziehen. Die schwerwiegenden Worte des Provinzialvorsitzenden: „Der Hessische Sängerbund ist keine Privatsache mehr, sondern Parteiinstanz“, gesprochen bei Gründung des Sängergaues Alsfeld, waren nicht vergessen. Wer wollte es zu dieser Zeit verantworten, auch nur indirekt etwas gegen den Willen der NSDAP zu tun? So kam es, dass sich der Vorstand bei Durchführung des „Deutschen Liedertages“, am 25.06.1934, für zwei Veranstaltungen entschied. Zwischen 11.00 und 12.00 Uhr, mittags, fand auf dem Marktplatz die Liederstunde, wie gewohnt, statt. Aber für abends war die Bevölkerung für die Zeit von 20.30 bis 2.00 Uhr „in das Erlenwäldchen“ eingeladen. Auch zu dieser Veranstaltung kam die Bevölkerung in stattlicher Zahl. Die Sänger standen inmitten eines Kranzes von Lampions. Als die Sonne untergegangen war, begannen die Sänger mit dem bekannten Chor: „Schon die Abendglocken klangen […].“ Hier, im Erlenwäldchen, in abendlicher Stille, konnte sich der Chorgesang in seiner Schönheit entfalten und die Herzen öffnen für das deutsche Lied. Die Menschen umstanden die Sänger, oder spazierten durch das, mit Lampions leicht erhellte Erlenwäldchen. Der erste Vorsitzende, Hermann Bender, beschränkte sich auf wenige Sätze an die zahlreichen Zuhörer. Der Aufforderung zum gemeinsamen Gesang kam man allseits gern nach. Die Oberhessische Zeitung schrieb zum ersten Erlensingen u.a.: „Es war eine schöne Stunde der Einmütigkeit im Geist und Gemüt, ein Erleben der volksverbindenden Kraft des Gesanges.“ Die Aufforderung an den Verein in dieser Zeitung, doch mehr solcher Liederstunden in den Erlen stattfinden zu lassen, war wohl im Sinne der Zuhörer geschrieben.

Auch in den Jahren 1936/1939 wurde der Deutsche Liedertag in dem Erlenwäldchen durchgeführt. Die Liederstunde auf dem Marktplatz ließ man ausfallen. Der HSB erhob dazu keinen Einwand.

Während des Krieges fiel das Erlensingen natürlich aus. Auch in den ersten schlimmen Nachkriegsjahren, als das deutsche Volk sehr unter dem Mangel von Nahrungsmitteln litt, glaubte der Verein, dass es besser sei, mit einer Wiederaufnahme des Erlensingens noch zu warten, zumal auch der DSB zum Deutschen Liedertag noch nicht wieder aufgerufen hatte. Aber im Jahre 1952 fasste der Verein einmütig den Beschluss, mit dem Erlensingen endlich wieder zu beginnen. Dass auch zu diesem Zeitpunkt der DSB noch nicht wieder zum Deutschen Liedertag aufgerufen hatte, störte die Sänger nicht. Auch den Zeitpunkt seiner alljährlichen Durchführung ließ man jetzt offen und passte ihn jeweils den witterungs- und sonstigen örtlichen Umständen an. Schließlich führten Überlegungen dazu, diese Veranstaltung nicht mehr im Erlenwäldchen, sondern am Erlenteich durchzuführen und sie mittels Illuminierung des Erlenteiches, Einsatz von Paddelbooten, Mitwirkung von Musikinstrumenten usw. noch zu verschönen. Der erstmals im Monat Juli 1952 erfolgte Aufruf an die Bevölkerung, dem Erlensingen beizuwohnen, fand ein kaum so stark erwartetes Echo. Die an den Eingängen zum Erlenteich erbetene freiwillige Gabe zur Deckung der entstandenen höheren Unkosten fand bei der Bevölkerung freundliches Verstehen. Das erste Erlensingen am Erlenteich fand unter Mitwirkung des Alsfelder Mandolinenorchesters statt. Es hatte vollen Erfolg. Dies kam auch in der Alsfelder Presse zum Ausdruck, die hier wohl auch die Meinung der Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Zwar war die erstmals dabei verwandte Lautsprecheranlage noch verbesserungsbedürftig, doch dies besserte sich von Jahr zu Jahr. Jedenfalls war man im Verein nunmehr der Meinung, das Erlensingen stets am Erlenteich durchzuführen. Im Jahre 1954 sprach am Ende dieser Veranstaltung Bürgermeister Kratz, der in diesen Jahr das Bürgermeisteramt übernommen hatte, dem Verein den Dank der Stadtverwaltung für die schöne Sitte des alljährlichen Erlensingens aus. Die stets große Teilnahme der Bevölkerung zeige – so sagte weiter der Bürgermeister – wie sehr die Alsfelder diese Veranstaltung begrüßen.

Erst im Jahre 1955 rief der DSB die Gesangvereine auf, künftig alljährlich den „Tag des Liedes“ zu begehen. Die frühere Bezeichnung „Deutscher Liedertag“ musste infolge der veränderten Verhältnisse (den Gesangvereinen in der Ostzone war eine Teilnahme an einem Deutschen Liedertag verboten) aufgegeben werden. Doch in Alsfeld tritt die Bezeichnung „Tag des Liedes“ bewusst in den Hintergrund. Hier hat sich die Bezeichnung „Erlensingen“ auch bei der Alsfelder Bevölkerung eingebürgert.

Der Verein blieb weiter ständig bemüht, die Durchführung des Erlensingens zu verbessern. Hier ist besonders die Hilfe des Bundesgrenzschutzes zu erwähnen, der seit Jahren zum Erlensingen ein Floß auf dem Teich montiert, wodurch die Übertragung durch Lautsprecheranlage erheblich verbessert wurde. Außerdem wurde ein abgeschirmtes Podium für Sänger, Sprecher und Solisten errichtet. Schließlich wurde auch die Illumination um den Erlenteich erheblich erweitert und verschönert.

Einen Höhepunkt erlangte das Erlensingen zweifellos bei seiner Durchführung am ersten Hessentag (01.07.1961), wo es von der Stadtverwaltung in das offizielle Program aufgenommen worden war. Die vielen Besucher aus dem ganzen Hessenland sahen hier, wie in Alsfeld der „Tag des Liedes“ durchgeführt wird, soweit sie nicht den Vorführungen auf dem Marktplatz zusahen. Der Verein hatte dieses Erlensingen besonders gut vorbereitet. Außer dem Chor unter Leitung von Lehrer Kapinus, wirkte u.a. auch ein Posaunenchor mit. Der erste Vorsitzende, H. Post, konnte eine überaus große Menschenmenge begrüßen.

Zur Besprechung des Verlaufs des ersten Hessentages in der Oberhessischen Zeitung sei das, was über das Erlensingen ausgeführt, hier ausführlich wiedergegeben: „Eine der schönsten, sinnvollsten Veranstaltungen des Hessentages war das vom MGV Liederkranz-Harmonie durchgeführte Erlensingen mit ausgefeilten Liedvorträgen und unter Mitwirkung eines Posaunenchores. Eine sich fast beängstigend um den Teich drängende Menschenmenge, froh und heiter gestimmt und den neuesten Schrei der Sommermode tragend, spendete den Darbietungen, die am laufenden Band abrollten und schönes deutsches Liedgut zu Gehör brachten, wohlverdienten Applaus. Eine prächtige Illumination, bengalisches Feuerwerk und ein köstlicher Sommerabend – der Hessentag musste nach Alsfeld kommen, damit die Sänger eines ihrer liebsten Vorhaben durchführen konnten – rundeten ein Bild ab, das noch lange unvergessen sein wird.“

Für die Sänger ist ein Erlensingen stets mit mancherlei Arbeit verbunden. Schon in der Morgenfrühe sind sie am Erlenteich anwesend, um die notwendigen Vorbereitungen für das abendliche Geschehen zu treffen, damit dem Verein nicht zu hohe Unkosten entstehen: Aber diese Arbeit wird von den Sängern gern getan, wei1 man weiß, wie sehr große Teile der Bevölkerung von Alsfeld und seiner näheren Umgebung das alljährliche Erlensingen begrüßen.

Hier die ausführliche Fassung:

Hermann Bender, Das Erlensingen, in: 125 Jahre Gesangverein Alsfeld. 125 Jahre Männerchorgesang in Alsfeld, 1839 bis 1964, Alsfeld 1964, S. IX/1-IX/5.

Kurzfassung:

Hermann Bender, Das Erlensingen, in: Festschrift 125 Jahre Gesangverein Liederkranz-Harmonie, 125 Jahre Männerchorgesang in Alsfeld, Alsfeld 1964, S. 43-45.

[Stand: 15.05.2024]