Beinhaus wurde Stadtarchiv – Neue Heimstätte für das „Gedächtnis der Stadt“ Alsfeld

Von Dr. Herbert Jäkel, Alsfeld (1983)

Was lange währt, wird endlich gut, könnte man sagen; denn genau 15 Jahre, nachdem der ehrenamtliche Leiter des Stadtarchivs Alsfeld im Oktober 1967 zum ersten Male dem Magistrat seine Gedanken zur Schaffung neuer zeitgemäßer Räume für das Stadtarchiv vorgetragen hatte, konnte endlich das für die Aufnahme des städtischen Archivs umgebaute Beinhaus aus dem Jahre 1510 bezogen werden.

Schon siebenmal umgezogen

Der Aufbewahrungsort der Urkunden, Stadtrechnungen und Akten, die das „Gedächtnis der Stadt“ bedeuten, hat in den letzten hundert Jahren öfters gewechselt. Die aus dem Schutt des 1878 im Zerfall befindlichen Rathauses geretteten Urkunden wurden 1892-1894 von Dr. Karl Ebel, die umfangreichen, nach und nach gesicherten Akten 1905-1909 von Pfarrer Dr. Eduard Edwin Becker vorbildlich geordnet und verzeichnet und 1909 im Weinhaus untergebracht [01].

Nach dem Brand im Weinhaus 1912, bei dem vor allem die Stadtrechnungen von 1539 bis 1819, etwa 250 Bände, vernichtet wurden, kam das Archiv in das Hochzeitshaus. Als sich dort wegen der Schlüsselfrage zwischen dem Archivar und dem Leiter des Heimatmuseums ein Streit entzündete, wurde das Archiv 1932 wieder in das Weinhaus gebracht. Vom Krieg verschont, konnten weitere Akten aufgenommen und 1947/1948 geordnet werden.

Wegen der Erweiterung der Verwaltung musste das Archiv 1955 in einem Raum zusammengedrängt werden. 1971 wurde das Archiv Opfer der Gebietsreform und kam in das 3. Obergeschoß des Neurath-Hauses. Mit den Baumaßnahmen für das Regionalmuseum begann 1975 die schlimmste Zeit. Das Archiv wurde in den Keller des Weinhauses ausgelagert, wo die Gefahr bestand, dass eines der wertvollsten hessischen Stadtarchive der endgültigen Vernichtung anheimfallen würde. Deshalb wurden immer wieder Anträge, so am 10. September 1975, gestellt und die Hilfen des Leiters des Hessischen Landesamtes für Denkmalpflege, Prof. Dr. Kiesow, und des Leiters des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Prof. Dr. Franz, in Anspruch genommen, bis schließlich Magistrat und Stadtverordnetenversammlung 1977 dem Umbau des Beinhauses als Stadtarchiv zustimmten. 1979 wurden die Zuschüsse im Rahmen eines mehrjährigen Investitionsprogrammes für die Baumaßnahmen vom hessischen Innenministerium bewilligt sowie bauarchäologische Untersuchungen von einer Gruppe Marburger Kunsthistoriker durchgeführt. Die Sanierungsarbeiten und die Finanzierung zogen sich über mehrere Jahre hin – 1980 wurde zusätzlich ein Dachreiter aufgesetzt – bis auch der Innenausbau fertiggestellt, der Aufbau der Regalreihen und der historischen Archivschränke abgeschlossen und vom 4. bis 8. Oktober 1982 der Umzug des Archivgutes aus dem Weinhauskeller in das Beinhaus mit Hilfe des städtischen Bauhofes durchgeführt werden konnte. Allerdings muss das gesamte Archivgut der Stadt Alsfeld und einiger Stadtteile völlig neu geordnet werden.

Zur Geschichte des Beinhauses

Das 18 m lange und fast 7 m breite, schlichte Steingebäude an der Ostseite des Kirchplatzes, des einstigen Kirchhofes, also des Friedhofes, lässt sich als eine gotische Kapelle erkennen. Über seiner Eingangstür steht die Jahreszahl 1510. Im Gegensatz zur Walpurgiskirche befindet sich der Chor mit seinem dreiseitigen Abschluss genau im Osten.

Ein Beinhaus gab es schon vor dem Jahre 1510, und zwar ebenfalls am Kirchplatz und sehr wahrscheinlich sogar an der gleichen Stelle. Als anlässlich der Errichtung eines Nebenaltars in der Walpurgiskirche 1368 von dem Vikar des Erzbischofs von Mainz, Frater Albert von Bychelingen, ein Ablass verliehen wurde, wird erstmals ein Beinhaus erwähnt. „Allen, die auf dem Friedhof der Pfarrkirche zu Alsfeld und besonders vor dem Beinhaus oder dem Ort, an welchem die Gebeine der auf dem Kirchhof begrabenen Gläubigen niedergelegt und aufbewahrt werden, umhergehen und […] dreimal abwechselnd ein Vaterunser und ein Ave Maria beten, ferner denen, welche für den Gottesdienst oder das Beinhaus durch barmherzige Schenkungen und Zuwendungen irgendwie sich hilfreich erweisen“ usw., wurde ein Ablass von 40 Tagen gewährt [02]. Im Mittelalter musste man bei dem beschränkten Raum der in der Stadt meist um die Kirchen herum gelegenen Friedhöfe die bei Neubestattungen ausgegrabenen Totengebeine in besonderen Beinhäusern, auch Karner oder Gerner genannt, sammeln und aufbewahren. So war der Keller des Beinhauses in Alsfeld mit seinem halbkreisförmigen Tonnengewölbe mit Knochen gefüllt, als diese 1824 herausgenommen und zum Friedhof auf den Frauenberg geschafft worden sind [03].

Das Beinhaus vor der Restaurierung (Repro GFA)
© Rudi-Kaus

Im oberen Geschoss war eine Kapelle. Das wird durch den Wasserausfluss belegt, der sich rechts neben der Türe befindet. Eine solche „piscina“ war für liturgische Zwecke notwendig. Auch der Ausdruck „altar zu sente Annen in der crofft zu Alsfelt“ in einer Urkunde aus dem Jahre 1444 deutet auf die Kapelle im Beinhaus hin [04].

Wie die bauarchäologischen Untersuchungen vermuten lassen, scheint der Chor zu einem Vorgängerbau gehört zu haben. Das aufgehende Mauerwerk besitzt hier ein umlaufendes Sockelgesims und aus dem Pflaster des Gehweges tritt eine Reihe von Steinen parallel zur Nordwand heraus. 1510 wurde wahrscheinlich unter Beibehaltung des Chorraumes ein neues Tonnengewölbe für den Keller und ein neuer Saal nach Westen angebaut. Die Eingangstüre mit der Jahreszahl ist dem Eingangsportal des Rathauses ähnlich gestaltet. Die spitzbogige Türumrahmung weist die ihrer Zeit eigentümliche Durchdringung der Profile auf. Die Fenster waren mit gotischem Maßwerk gefüllt [05].

Nach der Chorographie von Gilsa und Leusler befand sich am Beinhaus eine steinerne Kanzel, die 1610 abgebrochen, poliert und zur Friedhofskapelle „transferieret“ wurde [06]. Sie stand wohl auf der steinernen Treppe der „Darre“, wie das Beinhaus inzwischen hieß. Mit der Reformation kam nämlich die Sitte, die Gebeine der Begrabenen in besonderen Häusern zu sammeln, ab. Die Toten wurden inzwischen auf dem Friedhof auf dem Frauenberg bestattet. Deshalb war die Kapelle am Kirchplatz für die Zwecke des evangelischen Gottesdienstes entbehrlich geworden [07]. Seit dem 17. Jahrhundert diente das Beinhaus als Malzdarre, zum Darren des Malzes für das 1569-1575 errichtete, im Dreißigjährigen Krieg stark beschädigte, aber nach 1649 wieder hergestellte Brauhaus zwischen Obergasse und Kirchplatz (heute freier Platz am Schwälmer Brunnen). Möglicherweise rühren die Brandspuren an der mächtigen Holzsäule von einem Feuer während des Darrprozesses.

1824 wurden die Gebeine aus dem Keller des Beinhauses entfernt. Dabei war im Gewölbe ein Töpfchen mit 18 Goldgulden gefunden worden, was neben einer großen Aufregung auch zu einer gerichtlichen Untersuchung führte; denn die arme Stadt beanspruchte den Fund aus ihrem städtischen Gebäude, doch die Finder hatten bereits für das Verschwinden des Goldschatzes gesorgt [08].

Das Beinhaus nach der Sanierung (Repro GFA)
© Rudi-Kaus

Im 19. Jahrhundert, d. h. nach 1849, diente das Beinhaus eine Zeitlang dem Turnverein als Turnhalle. 1876 verkaufte die Stadt das Beinhaus an J. Lorsch, dem 1888 die Firma G. Rothschild Söhne folgte, die es als Lagerraum benutzte. 1896 hatte der Glasermeister Ernst Tilemann Lenth das Gebäude erworben, das als Lagerhaus für Hölzer diente. 1910 folgte sein Sohn Ernst Lenth [09].

Als der Glasermeister Lenth 1907 eine Werkstatt mit Maschinenbetrieb einrichten und dabei den oberen Teil der Fenster zumauern, das Dach abtragen, die Umfassungsmauern mit Kniestockwänden erhöhen, den Dachstuhl wieder aufsetzen und die Außenwände verputzen wollte, regte der Denkmalpfleger Heinrich Walbe den Rückkauf durch die Stadt an, damit das Baudenkmal nicht vernichtet werde. Das scheiterte aber an den zu hohen Forderungen des Besitzers. So wurde eine Neugestaltung mit Mansarddach bei Unversehrtheit des Äußeren angestrebt [10]. Beim Umbau fand man unter den Gesimssteinen, die das Dach trugen, an zwei Stellen drei bzw. vier Schädel, die mit der Hinterseite in Mörtel eingebettet waren.

Das Bauwerk hat im Laufe der Zeit manche bauliche Veränderung erfahren. Während die Südwand in ihrer architektonischen Gliederung weitgehend unverändert blieb, hatte die Nordwand völlig neue Fenster erhalten, die allerdings die Stellen der alten Spitzbogenfenster einnehmen. Der Treppenaufgang zum Portal dürfte verändert worden sein, vielleicht im Zusammenhang mit der Entfernung der Außenkanzel 1610. Auf der Nordseite muss sich in der Mittelachse des Saales einst ein weiterer Eingang mit einem Treppenaufgang befunden haben. Die Fenster des Chores waren bis 1907 zugemauert, das Ostchorfenster sogar bis zum jetzigen Umbau. Von der Fachwerkkonstruktion im Innern hat sich lediglich eine oktonale Holzsäule auf quadratischem Sockel als Unterzugsstütze erhalten [11]. Bei Untersuchungen nach Farbresten wurde festgestellt, dass der gesamte Innenraum geschwärzt war, d. h., dass es während eines Darrprozesses gebrannt hat.

Mit dem Umbau war zwar mancher Ärger über die Innengestaltung und um den Dachreiter verbunden, aber das Beinhaus konnte mit dieser Baumaßnahme und Nutzungsänderung als historisches Baudenkmal gerettet, restauriert und der Nutzung als Aufbewahrungsort des Stadtarchivs zugeführt werden.

Stadtarchiv – „Gedächtnis der Stadt“

Der Name Archiv kommt vom griechischen Wort archeion und bedeutet Rathaus, Regierungsgebäude [12]. Im Rathaus repräsentiert sich die Verwaltung des Gemeindewesens, die es mit einer Menge von Schriftgut zu tun hat. Sobald sich eine Verwaltung ein Zeitlang betätigt hat, wächst das Schriftgut in einem Maße an, dass schließlich derjenige Teil, der nicht mehr im Geschäftsgang benötigt wird, ausgeschieden und an das Archiv abgegeben wird, das alle aus dem laufenden Dienst ausgeschiedenen Schriftstücke, Urkunden und Akten, die man daher auch Archivalien nennt, übernimmt, ordnet und fachlich erschließt. Das Archiv wächst mit der Verwaltung. Diese ist der feste Lieferant, jenes der feste Abnehmer.

Das Sammeln und Aufbewahren von Schriftstücken, Verzeichnissen, Registern, Protokollen, Rechnungen und Urkunden hat in Alsfeld wohl begonnen, seitdem die städtische Behörde mit Verwaltungsgeschäften zu tun hatte und seitdem es ein eigenes Gebäude für diesen Zweck, das Rathaus, gab. Seit dem Bau des neuen Rathauses 1512-1516 wurde dieses der Aufbewahrungsort der städtischen Akten. Der Verwalter war der Stadtschreiber, der Jurist und Akademiker, der seit 1509 nachweisbar ist. Seit dieser Zeit beginnen die meisten Archivalien: Ratsbücher seit 1498, Gerichtsbücher seit 1478, Gemeinde- und Stadtrechnungen seit 1526. Prozessakten seit 1501, Landstände-Akten seit 1510, Kriegsakten seit 1517, Weinhausrechnungen seit 1541 usw.

Als Pfarrer Dr. Becker 1905-1909 das Stadtarchiv ordnete, hatte er 556 Urkunden vom 14. bis 19. Jahrhundert registriert, 60.000 bis 80.000 Aktenstücke in 205 Konvoluten zusammengefasst und neben anderen allein rund 900 Bände an Stadtrechnungen verzeichnet. Dr. Karl Geisel hatte 1947-1948 weitere 80.000 bis 100.000 Schriftstücke in 219 Konvoluten erschlossen, so dass sich ohne den Zugang nach dem Zweiten Weltkrieg über 200 m Stellfläche mit einer halben Million Schriftstücken im Stadtarchiv befinden. Mit der Aufnahme weiterer Akten und Bände sowie einiger Stadtteilarchive, die alle noch geordnet, gebündelt und verzeichnet werden müssen, werden alle Archivalien der Stadt Alsfeld nebeneinandergestellt die Länge einer 400-m-Bahn einnehmen.

Im Stadtarchiv ruhen die Dokumente, in denen Generationen über Generationen „ihr Leben“ hinterlassen haben, in denen die Politik der Stadtväter über Jahrhunderte hinweg ihren Niederschlag gefunden hat, in denen der wirtschaftliche Verkehr, das kulturelle, soziale und private Leben unserer Vorfahren eingefangen ist und aus dessen Fundgrube wir immer wieder schöpfen.

Wenn die Bauarbeiten am Beinhaus und die Einrichtung des Stadtarchives auch 575.000 DM gekostet haben, so sollte man nicht vergessen, dass sich in ihm Dokumente befinden, die wir zu bewahren und zu erhalten haben; denn in ihnen ruhen die Fundamente der Geschichte und die Elemente des Geschichtsbewusstseins, die dem gegenwärtigen Leben das „Wohlgefühl seiner Wurzeln“ zu geben vermögen. Wie wir unsere Lebensdaten, Geburtsurkunde, Zeugnisse, Schuldscheine, Steuerbescheide, Liebesbriefe, Trauernachrichten, Preisverleihungen, Fotos, also Daten für den Lebenslauf und Erinnerungen festhalten, so hält das Stadtarchiv die Fakten und Daten zur Geschichte der Stadt Alsfeld fest. Alsfeld besitzt eines der bedeutendsten Stadtarchive Hessens.

Anmerkungen

[01] Herbert Jäkel, Das Archiv der Stadt Alsfeld. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, XI. Reihe, Nr. 1, 1967, S. 1 ff.

[02] Fritz Herrmann, Ein Ablassbrief für die Walpurgiskirche zu Alsfeld aus dem Jahre 1336. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, I. Reihe, Nr. 1, 1902, S. 6

[03] Fritz Herrmann, Der Schatz im Beinhaus. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, II. Reihe, Nr. 7, 1908, S. 137 ff. und Eduard Edwin Becker, Führer durch Alsfeld, Alsfeld 1922, S. 34

[04] Eduard Edwin Becker, Stiftung für die Kirche zu Eudorf. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, II. Reihe, Nr. 6, 1908, S. 127

[05] Bauarchäologische Untersuchungen des Beinhauses in Alsfeld, Marburg 1978

[06] Die Chorographie von Gilsa und Leusler. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, V. Reihe, Nr. 19, 1923, S. 139

[07] Eduard Edwin Becker, Das Beinhaus zu Alsfeld. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, II. Reihe, Nr. 7, 1908, S. 137

[08] Fritz Herrmann, Der Schatz im Beinhaus. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, II. Reihe, Nr. 7, 1908, S. 138 f.

[09] Karl Dotter, Die Besitzer der Häuser am Kirchplatz zu Alsfeld. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, VII. Reihe, Nr. 7, 1936, S. 80

[10] Jahresbericht der Denkmalpflege im Großherzogtum Hessen, 1907/1908. Darmstadt 1910, S. 138

[11] Bauarchäologische Untersuchungen, a. a. O.

[12] Herbert Jäkel, a.a.O.

Erstveröffentlichung:

Dr. Herbert Jäkel, Beinhaus wurde Stadtarchiv. Neue Heimstätte für das „Gedächtnis der Stadt Alsfeld“, in: Hessische Heimat, 33. Jahrgang, 1983, Heft 3/4, S. 156-157.

(Frau Dr. Irene Ewinkel, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Kultur- und Denkmalpflege, Hessischer Heimatbund e.V., Geschäftsstelle: Michelbacher Str. 34a, D-35041 Marburg, hat die Veröffentlichung des Dr. Herbert Jäkel-Textes auf www.Geschichtsforum-Alsfeld.de gestattet. Herzlichen Dank!)

[Stand: 26.03.2024]