Die Walpurgiskirche zu Alsfeld
Ihre Baugeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung

Von Dr. Jürgen Michler, Marburg (1972)

Der kunstgeschichtlichen Forschung wurde die Walpurgiskirche zu Alsfeld erstmals bekannt gemacht in Wilhelm-Kästners 1924 erschienenem Werk über die Elisabethkirche zu Marburg [01]. Wilhelm-Kästner zieht darin einen früheren Zustand des Langhauses der Walpurgiskirche als Vergleichsbeispiel für die Baugeschichte der Marburger Elisabethkirche in Betracht. Das Langhaus der Walpurgiskirche hat nämlich sein heutiges verbautes Aussehen erst zufolge eingreifender Umbauten erhalten; ursprünglich war es – das hatte die ältere Lokalforschung schon erkannt [02] – als dreischiffige Basilika erbaut worden, das heißt: die Seitenschiffe waren ursprünglich niedriger als heute, so dass das Mittelschiff in seinen noch heute bestehenden Ausmaßen die Seitenschiffe überragte (Abb. 9). Von dieser ursprünglich basilikalen Anlage zeugen noch im heutigen Bestand am augenfälligsten die niedrigen Pfeiler unter den hohen – weil später erweiterten – Arkaden, sowie die Fensteröffnungen zwischen den später auf gleiche Höhe gebrachten Schiffen im 2. Joch von Westen (Abb. 1 und 10). Mit der Vereinheitlichung der Höhen aller drei Schiffe wurde bei dem späteren Umbau die basilikale Anlage in ein Hallensystem umgebildet. Während in einer Basilika das Mittelschiff eine eigene Belichtung erhält durch Fenster in den Wänden über den Arkaden, in den sogenannten Obergadenwänden (die genannten Fenster im 2. Joch öffneten sich also ursprünglich nach außen und belichteten das Mittelschiff unmittelbar), wird im Hallensystem, bei dem alle Schiffe gleiche Höhe haben, das Mittelschiff nur indirekt durch die Seitenschiffsfenster belichtet. Das Langhaus der Marburger Elisabethkirche, für das Wilhelm-Kästner das ursprünglich basilikale Langhaus der Alsfelder Walpurgiskirche zum Vergleich heranzieht, ist eine Halle aus drei gleich hohen Schiffen (Abb. 2). Wilhelm-Kästner vertrat die Ansicht, dass das Marburger Langhaus vor seiner Erbauung im Hallensystem als Basilika geplant gewesen sei, und er zieht als Beweis für diese These u.a. das ursprünglich basilikale Alsfelder Langhaus heran. Er setzt dabei voraus, dass die Alsfelder Walpurgiskirche in ihrer ursprünglichen Gestalt nach dem Vorbild der Marburger Elisabethkirche errichtet worden sei, was insofern naheliegt, als die Marburger Elisabethkirche als eines der ersten rein gotischen Bauwerke Deutschlands bald eine weite Nachfolge gefunden hatte, die aufzuspüren und zusammenzustellen gerade Wilhelm-Kästners Verdienst war.

Auf Grund dieser These Wilhelm-Kästners erscheint die Walpurgiskirche nicht nur im unmittelbaren Bannkreis der großen gotischen Architektur, sondern sie erhält auch eine Schlüsselstellung für die Erforschung der Baugeschichte der Marburger Elisabethkirche. Damit gewinnt die Walpurgiskirche besonderes Interesse für die Kunstgeschichtsforschung.

Als Indiz für eine Abhängigkeit von Marburg war in Alsfeld allerdings einzig und allein die Grundform des Pfeilers heranzuziehen, die sich hier wie dort aus einem runden Pfeilerkern und vier Runddiensten zusammensetzt. Im übrigen lassen Einzelformen und Aufbau des ursprünglich basilikalen Langhauses der Walpurgiskirche keinerlei Vergleich mit der Elisabethkirche zu, so dass unter diesem Blickwinkel der Alsfelder Bau lediglich als eine „rustikale Reduzierung“ des Marburger Vorbildes erscheinen könnte, die darauf beruhen würde, dass der Alsfelder Meister noch „stark an der alten (romanischen) Tradition haftete“, weil er sich „in der Handhabung der [Seite-66] neuen (gotischen) Stilelemente noch nicht sicher genug fühlte“ (Wilhelm-Kästner) Diese Ansicht blieb nicht unwidersprochen. Schon 1927 merkte Meyer-Barkhausen in seinem Alsfeld-Buch an, dass ihm die Zusammenhänge der Walpurgisbasilika mit der Marburger Elisabethkirche „in zu einseitiger Weise betont worden zu sein scheinen“; seine Forderung nach einer „gründlicheren Klärung dieser Fragen“ blieb jedoch bisher unerfüllt [03].

Nicht nur die kunstgeschichtliche Einordnung der Alsfelder Walpurgiskirche, auch ihre eigentliche Baugeschichte war bislang noch nicht endgültig geklärt, also die Abfolge der einzelnen Bauphasen und ihre Datierung. Nur die spätgotischen Bauteile – Chor und Turm – sind durch Inschriften eindeutig auf 1393 und 1394 datiert. Für die ursprüngliche basilikale Anlage fehlen jedoch Inschriften oder direkte urkundliche Quellenbezüge. Die Urkunde von 1233, die JOHANNES PLEBANUS DE AILESVELT nennt [04], belegt lediglich das Bestehen einer Pfarrkirche in Alsfeld zu diesem Zeitpunkt, wobei offen bleibt, ob es sich dabei schon um das bestehende Bauwerk handelt [Seite-67] oder um einen Vorgängerbau, wie er bei den jüngsten Ausgrabungen auch tatsächlich festgestellt wurde. Auch der bisher angenommene Ansatz des Basilikabaues um 1240/1250 [05] setzt in Bezug auf die Urkunde von 1233 das Bestehen eines Vorgängerbaues voraus. Dieser Ansatz beruhte jedoch einzig und allein auf der stilgeschichtlichen Einordnung des Basilikabaues in die Nachfolge der Marburger Elisabethkirche, was schon durch die zitierte Anmerkung von Meyer-Barkhausen angezweifelt worden ist. Völlig offen blieb bislang die Datierung und baugeschichtliche Einordnung des Umbaues des Langhauses von der Basilika zur Halle, der teils mit einer Inschrift von 1472 in Zusammenhang gebracht wird, teils aber auch erheblich früher angesetzt wird, und zwar entweder kurz vor oder kurz nach der Erbauung des spätgotischen Chores [06].

Alle diese Fragen der Baugeschichte und kunstgeschichtlichen Einordnung bilden die Grundlage für die hier anzustellenden Überlegungen. Dabei sollen abschnittweise die einzelnen aufeinanderfolgenden Bauphasen jede für sich behandelt werden. Ziel [Seite-68] dieser zergliedernden Betrachtungsweise bleibt aber die Erkenntnis des allmählichen Zusammenwachsens des Baugebildes, wie wir es heute als Gesamtheit vor Augen haben: mit seinem in Dämmerlicht gehüllten, gedrungenen Langhaus, und dem in eindrucksvollen Kontrast dazu in strahlender Helligkeit in Erscheinung tretenden, fast doppelt so hohen, steilen Hochchor.

Die ursprüngliche Basilika ersetzte einen kleineren Vorgängerbau, von dem bei Ausgrabungen Ende 1971 / Anfang 1972 im Bereich ihres Langhauses Fundamentreste gefunden wurden [07] (Abb. 3 und 4). Unter Beibehaltung seiner Längsachse wurde der Neubau rund um den Vorgängerbau herum angelegt. Dieser konnte dabei noch während eines bedeutenden Teiles der Neubauzeit benutzt werden und brauchte erst beim inneren Ausbau des neuen Langhauses abgebrochen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt stand dann aber schon der Chor, mit dem der Neubau begonnen worden war, vorübergehend als Notkirche zur Verfügung. Dieses Verfahren des abschnittweisen Vorgehens beim Erstellen von Neubauten anstelle älterer bestehender Kirchen zum Zweck der gottesdienstlichen Kontinuität war im Mittelalter allgemein üblich und wird uns auch später noch wieder begegnen beim Umbau der Basilika zur Halle sowie beim spätgotischen Neubau des Chores.

Mit dem Ziel, bereits beim Abbruch des Vorgängerbaues einen abgeschlossenen benutzungsfähigen Neubauteil zur Verfügung zu haben, wurde also der Basilikabau mit dem Chor begonnen. Dieser Chor wurde zwar später wieder abgebrochen, um dem bestehenden spätgotischen Hochchor Platz zu machen, doch sind dabei genügend Einzelheiten erhalten geblieben, die eine vollständige Rekonstruktion ermöglichen. Beim späteren Abbruch des Chores musste nämlich auf die bestehenbleibenden anschließenden Bauteile – Langhaus und Sakristei – Rücksicht genommen werden: deshalb mussten die westlichen Eckpfeiler des Chores als östliche Pfeiler des Mittelschiffes ebenso erhalten bleiben wie die ganze Nordwand des Chores, die ja zugleich die Südwand der Sakristei darstellt. Als erhalten gebliebene Reste des alten Chores waren bisher bekannt: die Dienste in den westlichen Ecken des bestehenden Hochchores und die Sakristeitür an der Nordseite (Abb. 5) sowie das einstige Dachgesims in der oberen Sakristei. Bei den jüngst durchgeführten Ausgrabungen wurden weitere Einzelheiten gefunden: es kamen die Sockel der Chorpfeiler (der westlichen Eckpfeiler des Chores zwischen Chor und Langhaus) sowie der Gewölbedienste des Chores zum Vorschein, und zwar auch diejenigen der nicht mehr erhaltenen Dienste der nördlichen Chorwand. Auf Grund dieser Einzelheiten lässt sich der ältere Chorbau rekonstruieren.

Nach Ausweis der erhaltenen Chorpfeiler war der alte Chor ebenso breit wie der bestehende spätgotische Hochchor. Zugleich war er aber kürzer und wesentlich niedriger. Die einstige Länge des Chores lässt sich an den aufgefundenen Dienstsockeln ablesen. Außer dem erhaltenen Dienst in der Westecke befanden sich zwei weitere Dienste an der Nordwand, von denen der östliche den stumpfwinkligen Wandanschluss eines Chorschlusspolygons erkennen lässt (Abb. 6). Bei symmetrischer Ergänzung dieses Befundes ergibt sich ein Chorgrundriss aus einem querrechteckigen Joch sowie einem aus fünf Seiten eines Achtecks gebildeten Chorschluss (Abb. 3). Das heißt: in der Längserstreckung war der alte Chor nur um ein Joch kürzer als der bestehende Hochchor. In der Höhe erreichte er jedoch nur knapp die Hälfte des spätgotischen Neubaues: die Dienste, auf denen einst die Gewölberippen ansetzten, erreichen mit ihren Kapitellen nur die Höhe der Sohlbank der Fenster des heutigen Chores (4 m) [08], das einstige in der oberen Sakristei erhaltene Dachgesims verläuft in 9.50 m Höhe, während der bestehende Hochchor eine Höhe von fast 19 ½ m erreicht. [Seite-70]

Mit diesen geringen Höhenmaßen blieb der alte Chor auch noch zurück hinter den entsprechenden Ausmaßen des Mittelschiffes, dessen Gewölbekapitelle 1,80 m höher angesetzt sind, und dessen über den später erhöhten Seitenschiffsgewölben erhalten gebliebenes Dachgesims etwa 2.20 m höher verläuft als das des alten Chores. Das Langhaus war also gegen den alten Chor deutlich abgesetzt, indem im Inneren das Mittelschiffsgewölbe gegen eine Abschlusswand anlief, in die erst erheblich tiefer der Chorbogen einschnitt (Abb. 9), während am Äußeren der Mittelschiffsobergaden gegenüber den in gleicher Flucht verlaufenden Chorseitenwänden erheblich höher aufragte. Eine derartige Höhenstufung vom Chor zum Langhaus ist bei einer einheitlich konzipierten Anlage ungewöhnlich, bei der sowohl im Inneren in Chor und Mittelschiff die gleiche Gewölbehöhe zu erwarten wäre, als auch am Äußeren ein über beide Bauteile durchlaufendes Dachgesims und ein gemeinsames, einheitliches Satteldach. [Seite-71]

Es fragt sich also, ob die Pläne, nach denen der Neubau mit dem Chor begonnen worden war, später bei der Ausführung des Langhauses abgeändert oder durch neue Pläne ersetzt worden sind.

Für eine solche Annahme spricht in der Tat noch mehr. Bei den jüngsten Ausgrabungen kamen die ursprünglichen langhausseitigen Sockelprofile der Chorpfeiler zu Vorschein (Abb. 4). Diese lagen tiefer als die Sockel der alten Chordienste, die an der Ostseite der Chorpfeiler freigelegt wurden (Abb. 5). Gemäß diesen Befunden war [Seite-72] im Langhaus ein ca. ½ m tieferes Fußbodenniveau vorgesehen als im Chor. Die übrigen jetzt wieder freigelegten Pfeiler und Dienstsockel des Langhauses liegen jedoch bei weitem nicht so tief, sondern beziehen sich auf ein Fußbodenniveau, das mit nur ca. 15 cm Differenz zum Chor die Sockelprofile der Chorpfeiler verdecken musste. Offenbar hatte man also beim Beginn des Neubaues zunächst vorgehabt, das Langhausniveau ca. 40 cm tiefer zu legen, als es später ausgeführt wurde. Damit wäre das Fußbodenniveau sogar noch tiefer als das des romanischen Vorgängerbaues zu liegen gekommen. Das ist ein ungewöhnlicher Plan, denn er hätte die Bewältigung besonderer Schwierigkeiten für die Anlage des neuen Langhauses beim Abbruch des Vorgängerbaues einschließlich seines Fußbodens und seiner Fundamente erfordert. Wir wissen nicht, welche Gründe für diesen ungewöhnlichen Plan gesprochen haben können. Wir können nur feststellen, dass man ihn bei Inangriffnahme des Langhausbaues aufgab und ein höheres Fußbodenniveau wählte, das vom Chorniveau nur noch [Seite-73] durch eine Differenzstufe (statt durch drei) unterschieden war. Vielleicht hat auch das nach Nordwesten hin ansteigende Gelände zur Aufgabe dieses Planes beigetragen, denn seltsamerweise war der Fußboden des Langhauses nicht eben angelegt, sondern stieg – wie aufgefundene Estrichspuren erkennen lassen – etwas schräg zur Nordseite hin an, so dass die Pfeilersockel der nördlichen Langhausarkaden um 20 cm höher lagen als die der südlichen (auch die tieferliegenden Chorpfeiler-Sockelprofile wiesen schon eine Differenz von 8 cm zwischen Nord- und Südseite auf).

Die Änderung des Fußbodenniveaus gegenüber dem ursprünglichen Plan um ca. 40 cm stellt jedoch nur eine geringfügige Differenz dar im Verhältnis zu dem Unterschied der Gewölbehöhen zwischen Chor und Langhaus von ca. 2 m. Es kommen aber außerdem auch noch stilistische Merkmale hinzu, die auf eine Planänderung zwischen dem einstigen Chor und dem basilikalen Langhaus hindeuten.

Die erhaltenen alten Chordienste sind im Gegensatz zu den einfachen Runddiensten des Langhauses Bündeldienste, die aus jeweils drei Rundstäben zusammengesetzt sind, die von tiefen Kehlen geschieden werden, und von denen der mittlere Rundstab erheblich kräftiger gebildet ist (Ø 24 cm) als die beiden begleitenden (Ø 10 cm) (Abb. 5). Die übrigen, nicht mehr vorhandenen Chordienste waren nach Ausweis der erhaltenen Sockel ebenso gestaltet (Abb. 6). Den oberen Abschluss der erhaltenen Bündeldienste bildet ein Kapitell, das allerdings nur den mittleren kräftigen Rundstab umschließt: von hier gingen die Rippen des Chorgewölbes aus, während die seitlichen Stäbe als Schildbogen an der Wand weiterliefen, die Ansatzlinie des Gewölbes an der Wand markierend. Die übrigen, nicht mehr erhaltenen Chordienste sind entsprechend zu rekonstruieren. Diese Form der Bündeldienste leitet sich ab aus dem Bausystem der klassischen Kathedralgotik (Chartres, Reims, Amiens), in dem jedem lastenden Gewölbeglied (Gurt, Rippen, Schildbogen) ein eigenes tragendes Dienstglied funktional zugeordnet war (Abb. 12). Diese strenge Strukturauffassung der nordfranzösischen Kathedralgotik bildete die Grundlage für alle Erscheinungen der aufkeimenden Gotik in Deutschland im 13. Jahrhundert. So finden wir ein Bausystem dieses klassischen Prinzips in nächster Nähe in Marburg in der Elisabethkirche (begonnen 1235) (Abb. 2). Dort kommen im Chor und an den Seitenschiffswänden ganz ähnlich zusammengesetzte Bündeldienste vor, drei- oder fünfgliedrig, je nachdem, ob jeweils drei oder fünf Gewölbeglieder (eine Rippe und zwei Schildbogen bzw. ein Gurt, zwei Rippen und zwei Schildbogen) aufzunehmen waren (Abb. 6). Im Gegensatz dazu finden sich im ehemaligen Alsfelder Chor nur dreigliedrige Bündeldienste, und zwar sowohl in den westlichen Chorecken und an den Ecken des Chorschlusspolygons, wo tatsächlich auch nur drei Gewölbeglieder aufzunehmen waren, als auch an der Mitte der Chorlängsseite, wo zwei weitere Gewölbeglieder hinzukamen, so dass das Kapitell des mittleren Dienststabes allein einen Gurt und zwei Rippen zu tragen hatte. Hier handelt es sich um eine Vereinfachung des komplexeren klassisch-gotischen Strukturprinzips zugunsten einer Vereinheitlichung des aufgewandten Formenapparates: es wurde damit erreicht, alle Dienstformen des Chores einander anzugleichen. Vergleichbare Bestrebungen finden wir im Kapitelsaal des Klosters Arnsburg und im Langhaus der Totenkirche von Treysa, die beide nach der Mitte des 13. Jahrhunderts angesetzt werden. Hier wie dort finden sich dreigliedrige Bündeldienste von ganz ähnlicher Bildung wie in Alsfeld, wobei abweichende Bündelformen eliminiert werden: in Arnsburg (Abb. 7) wären in den Raumecken zweigliedrige Bündeldienste zu erwarten, die jedoch durch Einfügung eines Wandpfeilers vermieden sind, während in Treysa (Abb. 8) an den Obergadenlangseiten eigentlich fünfgliedrige Bündeldienste zu erwarten wären, die jedoch – in Angleichung an die dreigliedrigen Eckdienste – durch Abfangen der Schildbogen auf eigenen Konsolen vermieden sind [09].[Seite-74]

Der Vergleich mit Treysa zeigt außerdem, dass in Alsfeld eine Fortsetzung des dreigliedrig-vereinheitlichten Bündeldienstprinzips des Chores im Langhaus durchaus möglich gewesen wäre. Stattdessen weist das Langhaus mit seinen einfachen Rundstabdiensten ein ganz anderes Stütze-Last-System auf. Im Verhältnis zu den klassischen Grundlagen der Gotik erweist sich das Alsfelder Langhaussystem als grundsätzlich neuartig, indem dort alle Lastfunktionen von bis zu fünf Gewölbegliedern auf einen einzigen Dienststab konzentriert werden. Bei der Besprechung des basilikalen Langhauses werden die Quellen für diese neue Auffassung untersucht werden. An dieser Stelle kann jedoch schon festgehalten werden, dass zwischen dem Gliedersystem des Chores und dem des Langhauses ein stilistischer Unterschied besteht, der auf eine Planänderung schließen lässt. In der Stilentwicklung erscheint das dreigliedrig-vereinheitlichte Dienstsystem des alten Chores als Zwischenstufe zwischen dem klassischen Gliedersystem, wie es noch für die Marburger Wanddienste gültig war, und dem neuartigen komprimierten Stütze-Last-System des basilikalen Langhauses der Walpurgiskirche. Eine vergleichbare Entwicklungsstufe repräsentieren Arnsburg und Treysa, die ihrerseits von Marburg abzuleiten sind. [Seite-75]

Für die stilistische Einordnung des alten Chores ergibt sich daraus die Frage, ob sein Bündeldienstsystem direkt auf die Marburger Elisabethkirche zurückgeführt werden kann, oder ob die Vergleichsbeispiele Arnsburg oder Treysa als Vermittler des Marburger Einflusses nach Alsfeld in Betracht zu ziehen sind.

Von der Bauhütte des Zisterzienserklosters Arnsburg waren vielfältige Anregungen in die ländliche Umgebung ausgestrahlt, und in allernächster Nähe von Alsfeld, in Ehringshausen, findet sich ein Chorbau dieser Zeit mit ähnlichen dreigliedrigen Bündeldiensten, die sich dort mit Sicherheit von Arnsburg her ableiten lassen und nicht von Marburg. Als „Leitmotiv“ für den Arnsburger Einfluss kann in Ehringshausen der schildförmige Fuß angesehen werden, mit dem die Rippe auf dem Dienstkämpfer aufsetzt: ähnliche Bildungen finden sich auch im Arnsburger Kapitelsaal und auch bei anderen Beispielen des Arnsburger Einflusskreises [10]. In Alsfeld ist der Rippenansatz zwar nicht mehr erhalten, hier findet sich eine entsprechende „Fuß“-Bildung jedoch anstelle einer Basis am Laibungsprofil der alten Sakristeitür, in einer Form, die für Arnsburg und den Arnsburger Umkreis geradezu charakteristisch ist [11]. Diese „Füße [Seite-76] an Laibungsprofilen und Rippen sind spätromanisches Erbe und finden sich im näheren Umkreis beispielsweise auch an der wenig älteren Marienstiftskirche von Gelnhausen. Im Zusammenhang mit hochgotischen Bauformen sind sie charakteristisch für die Assimilation der Gotik in der zisterziensischen Baukunst, während sie in der „klassischen“ Ausprägung der Marburger Hochgotik nur als seltene Ausnahmen auftreten [12]. Auch das prägnant geschärfte Laibungsprofil der Sakristeitür wie ihre gesamte Aufbauform mit dem eingezogenen Tympanonbogen finden nahe Vergleichsbeispiele in Arnsburg [13].

Vom Arnsburger Kapitelsaal her lässt sich auch die unterschiedliche Profilierung der Chordienstbasen und der Chorpfeilersockel erklären (Abb. 6). Beide gehen als hochgotische Umprägungen auf die antike Form der „attischen Basis“ zurück (aus zwei Wulsten und einer dazwischenliegenden Kehle), wie sie auch in der hochmittelalterlichen Baukunst bis hin zur klassischen Kathedralgotik maßgeblich war. An den sich während ihrer langen Bauzeit allmählich verändernden Profilformen wird die Entwicklung zur hochgotischen Basis in der Elisabethkirche deutlich ablesbar (Abb. 11): von einer statisch festen Übereinanderschichtung der dreigliedrigen Profilfolge zu einer unter dem Druck der lastenden Kräfte scheinbar zusammengepressten Profilform, bei der der obere Wulst allmählich immer weiter in die Kehlung einsinkt, bis schließlich im späten Bauabschnitt des westlichen Langhauses die beiden Wulste zu einer neuen Profilform zusammenwachsen, während die Kehle fortfällt. Diese hochgotische Form der Basis liegt den Alsfelder Chordienstbasen bereits zu Grunde. Auch die Arnsburger Dienstbasen zeigen die Profilbildung schon in einem fortgeschrittenen Stadium dieser Entwicklung. Daneben ist dort das umlaufende Sockelprofil als Verschleifungsform der attischen Basis zu erkennen, von der sich wiederum der vereinfachte Alsfelder Chorpfeilersockel ableiten lässt.

Mit dieser Einordnung des alten Chores der Walpurgiskirche in den Einflussbereich der Arnsburger Bauhütte sowie – anscheinend über Arnsburg vermittelt – der jüngeren Teile der Marburger Elisabethkirche ergeben sich zugleich Anhaltspunkte für seine Datierung. Die vergleichbaren Bauteile der Elisabethkirche wie des Arnsburger Zisterzienserklosters – hier insbesondere der Ostbau mit dem Kapitelsaal – sind erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts anzusetzen! [14]. So ist für den alten Alsfelder Chor eine Entstehung frühestens im ersten oder zweiten Jahrzehnt nach der Mitte des 13. Jahrhunderts zu folgern.

Im Langhaus sind von der ursprünglich basilikalen Anlage nur noch die Arkadenpfeiler sowie große Teile der Obergadenwände des Mittelschiffes erhalten, während von den ursprünglichen Seitenschiffen nur noch die jüngst ergrabenen Fundamente zeugen. Nach der hallenmäßigen Erweiterung der Seitenschiffe wurden die basilikalen Obergadenwände des Mittelschiffes weitgehend ausgebrochen, um eine räumliche Verbindung zwischen den auf gleiche Höhe gebrachten Schiffen herzustellen. Dabei wurden diese Durchbrüche im Westteil des Langhauses nur in beschränktem Maße durchgeführt, vermutlich im Hinblick auf die Verstrebung des Turmes. So finden sich dort in den erhalten gebliebenen Teilen der Obergadenwände noch Überreste der ursprünglichen Fenster (Abb. 10).

Der westliche Abschluss des Langhauses verläuft nicht in allen drei Schiffen einheitlich, sondern springt im Mittelschiff gegenüber den Seitenschiffen um ca. 1 m ein: hier schneidet der Westturm in den Grundriss des Langhauses ein (Abb. 3). Nun ist der bestehende Turm nach dem Einsturz des älteren 1394 neu errichtet worden, und man könnte meinen, der Einsprung des Turmes in das Langhaus sei auf eine Verstärkung beim Neubau zurückzuführen. Doch die Formen der Gewölbekapitelle und Rippenanfänger [Seite-77] an der Westwand des Mittelschiffes bezeugen, dass diese von Einsturz und Neubau des Turmes nicht betroffen wurde und in ihrer ursprünglichen Form bestehen geblieben ist, woraus hervorgeht, dass die Grundrissanordnung mit dem in das Langhaus einschneidenden Turm schon auf den älteren Bestand zurückgeht. Da eine solche in den Grundriss des Langhauses einspringende Anordnung des Westturmes für eine einheitliche Planung ungewöhnlich wäre, deutet sie darauf hin, dass der alte Westturm schon vor der Erbauung des basilikalen Langhauses angelegt gewesen sein muss. Da die Achsen des bestehenden Mittelschiffes mit denen des Vorgängerbaues überein stimmen, lässt sich die Anlage des Westturmes nicht mit Sicherheit einordnen, zumal er für den kleinen ersten Vorgängerbau zu groß dimensioniert erscheint. Vielleicht wurde der Turmgrundriss erst zusammen mit dem alten Chor angelegt, nach einem gemeinsamen Plan, der dann bei der Ausführung des Langhauses geändert wurde.

Soweit ist der Befund der einstigen Basilika im bestehenden Langhaus zu erkennen. Auf Grund dieses Befundes ergibt sich an Hand der Beschreibung der Einzelformen die weitere Rekonstruktion (Abb. 9).

Den gedrungenen Rundpfeilern des Langhauses sind in den vier Hauptachsen Runddienste angefügt, von denen die in der Längsachse angeordneten von dem Kämpferband [Seite-78] des Pfeilers umkröpft werden, so dass dort kelchartige Kapitellformen zustande kommen, die mit gotisch-stilisiertem Blattwerk geschmückt sind. In gleicher Weise ist die Anordnung der Dienste und ihrer Kapitelle an der den Seitenschiffen zugewandten Seite der Rundpfeiler zu rekonstruieren. Entsprechende Spuren sind im nördlichen Seitenschiff noch erkennbar, wo die Dienste nach der späteren hallenmäßigen Erweiterung abgeschlagen wurden. Im Süden blieben die Dienste selbst zwar erhalten, doch wurden dort die Kapitelle offenbar bei der Seitenschiffserweiterung durch neue ersetzt, die etwas tiefer angeordnet wurden. Auf diesen Befund wird bei der Besprechung der südlichen Seitenschiffserweiterung ausführlicher einzugehen sein [15].

Auf den erhaltenen Kapitellen der in der Längsachse angeordneten Pfeilerdienste setzten ursprünglich unmittelbar die Scheidebogen zwischen Mittelschiff und Seitenschiffen auf. Nach Ausweis eines noch erhaltenen kurzen Bogenansatzes (im 2. Joch am 1. Pfeiler der Nordseite neben dem Ansatz der später eingebauten Westempore) waren die Scheidebogen auf der Mittelschiffseite zweifach abgestuft und mit Fasen profiliert, was vermutlich auf der Seitenschiffseite symmetrisch zu ergänzen ist [16]. [Seite-79]

Über den Scheidebogen stieg die Obergadenwand auf. Die dem Mittelschiff zugewandten Pfeilerdienste sind ohne Unterbrechung über den Pfeilerkämpfer hinweg bis zum Ansatz der Mittelschiffsgewölbe hochgeführt. Auf ihren ebenfalls laubwerkgeschmückten Kapitellen (Abb. 11) setzen alle Gewölbeglieder – Gurt, Rippen und Schildbogen – gemeinsam an. Gurte und Rippen wiesen ursprünglich alle das gleiche kräftige Birnstabprofil auf, so wie es an den Bogenansätzen noch erhalten ist [17]. Den Anschluss der Gewölbe an die Obergadenwand markiert ein schmales kantiges Schildbogenprofil. Hoch oben im Schildbogenfeld des Obergadens waren die Fenster angeordnet: kleine Fenster mit Maßwerkfüllung, wie sie im 2. Joch in der ursprünglichen Form erhalten sind [18]. Außer den Gewölbediensten und Fenstern wies die Obergadenwand ursprünglich wahrscheinlich keine weitere Gliederung auf [19].

Die Rundpfeiler mit ihren vier Runddiensten entsprechen der Grundform des sogenannten „Kantonierten Pfeilers“ der klassischen Kathedralen (Abb. 12), jedoch unter erheblicher Schrumpfung der Proportionen. Im Gegensatz zu dem klassisch-gotischen Vorbild sind aber die dem Mittelschiff zugewandten Dienste nicht in der Höhe des Pfeilerkämpfers durch ein Kapitell oder eine Verkröpfung unterbrochen. Ihr ununterbrochenes Hochführen ist zu verstehen als Konsequenz aus der schon angedeuteten Komprimierung der struktiven Funktion mehrerer lastender Gewölbeglieder auf einen einzigen Stütz-Strang, den einfachen Rundstabdienst.

An dieser Stelle ist es angebracht, auf die stilistische Bedeutung dieses Phänomens etwas näher einzugehen. In der klassischen Kathedralgotik wurden über dem einfachen Runddienst des Kantonierten Pfeilers am Obergaden Bündeldienste angeordnet, in gliedweiser Zuordnung zu den Gewölbegliedern. Dafür wurden dem am Obergaden weitergeführten Pfeilerdienst begleitende Dienststäbe zugefügt, die auf dem Pfeilerkämpfer mit eigenen Sockeln ansetzen. In der Marburger Elisabethkirche wurde bei der Umprägung der basilikalen Vorbilder der französischen Gotik in ein Hallensystem der basilikale Obergaden eliminiert und der Kantonierte Pfeiler bis zur Höhe des Gewölbeansatzes hochgeführt (Abb. 2). Damit fielen aber auch die Obergaden-Bündeldienste für eine gliedweise Aufnahme der einzelnen Mittelschiffsgewölbeglieder [Seite-80] aus, und es stand nur noch der einfache mittelschiffseitige Rundstabdienst des Kantonierten Pfeilers zur Verfügung. Damit, dass nicht mehr für jedes Gewölbeglied ein Dienstglied vorgesehen wurde (wie es noch an den Chor- und an den Seitenschiffswänden der Fall ist), wurde mit den Hallenpfeilern der Elisabethkirche das strenge klassisch-gotische Strukturprinzip gelockert, und wir können darin ein erstes Aufkeimen einer sich in der Hochgotik wandelnden Strukturauffassung erkennen. Im Gegensatz zum Alsfelder Langhaus wurden aber noch nicht die Diagonalrippen zusammen mit dem Gurt auf dem einen Rundstabdienst konzentriert, sondern dieser Dienst bleibt allein dem Gurt vorbehalten, während die Rippen ohne eigene Dienstbeziehung frei auf dem Kämpferband der Pfeiler aufsetzen. Demgegenüber ist die Konzentrierung vielfältiger Tragefunktionen auf einfache Runddienste in Alsfeld als eine grundsätzlich neuartige Lösung anzusehen.

Die Komprimierung verschiedener Gewölbegliederfunktionen in dem einfachen Rundstabdienst findet ihren sinnfälligsten Ausdruck in der unmittelbaren, ungehemmten Inbeziehungsetzung von Basis und Gewölbekämpfer über den ununterbrochen über den Pfeilerkämpfer hinweg durchlaufenden Dienst. Dadurch, dass der mittelschiffseitige Pfeilerdienst nun aber am Kämpfer des Kantonierten Pfeilers keinen Abschluss mehr findet, wird zugleich seine Bindung an die achsial-symmetrische Grundform des Kantonierten Pfeilers gelöst. Dessen ursprüngliche Wesensbestimmung wird demzufolge grundsätzlich umgewertet: er hört auf, in seiner symmetrisch geschlossenen Pfeilereinheit aus Schaft und Diensten eine sinnfällig konzentrierte Stütze des auf ihm lastenden Obergadens darzustellen, als welcher er in den „klassisch“-gotischen Kathedralen seine Ausprägung und Formbedeutung gefunden hatte. Stattdessen wird jetzt nur noch die runde Pfeilertrommel mit den beiden in der [Seite-81] Längsachse angeordneten Diensten als Arkadenteil auf die Scheidebogen bezogen, während der aus ihrem Kämpferband herausgelöste Mittelschiffsdienst ohne engere Bindung an die Pfeilertrommel hochläuft und sich in der gleichen Selbständigkeit an der Wandfläche entlang fortsetzt bis zu dem Kämpferpunkt seiner eigenen Gewölbeträgerfunktion.

Diese Umwertung des Kantonierten Pfeilers ist ein stilgeschichtliches Phänomen an der Wende von der „klassischen“ Gotik zur Hochgotik. Der Kantonierte Pfeiler bot in seiner streng symmetrischen Grundform, in der er in den „klassischen“ Kathedralen eingesetzt war, keine Möglichkeit einer unmittelbaren struktiven Inbeziehungsetzung zwischen Basis und Gewölbeansatz, eben weil der allseitig geschlossene Pfeilerkämpfer eine Zäsur setzte. So wird erstmals 1231 im unmittelbaren Umkreis der Kathedralbaukunst im Langhaus von St. Denis (Abb. 13), der Kantonierte Pfeiler – die ureigenste Erfindung der Kathedralgotik, die in ihrer „klassischen“ Phase zentrale struktive Bedeutung in sich vereinigte – aufgegeben zugunsten des Bündelpfeilers, der lediglich eine gotische Umprägung einer traditionellen romanischen Pfeilerform darstellte – wie bei den romanischen Vorgängern – die Möglichkeit bot, Teile des Pfeilers – und das sind am gotischen Bündelpfeiler nicht mehr Wandvorlagen wie am romanischen Kreuzpfeiler, sondern Dienstbündel – ohne Unterbrechung durch den Pfeilerkämpfer weiterzuführen über den Obergaden bis zum Gewölbekämpfer.

Eine vergleichbare Lösung zeigt das basilikale Langhaus der Totenkirche zu Treysa, wo der Kantonierte Pfeiler durch die althergebrachte Grundform des Rechteckpfeilers ersetzt wurde, an dem der Bündeldienst des Obergadens bis zum Pfeilersockel heruntergeführt werden kann (Abb. 8). Im Vergleich zu Alsfeld erscheint die Treysaer Lösung von oben her – von der Bündelstruktur der Obergadendienste her – entwickelt und auf das Arkadengeschoß übertragen, wobei der Kantonierte Pfeiler auf zugeben war, während die Alsfelder Lösung im Gegensatz dazu durch die Hochführung des mittelschiffseitigen Pfeilerdienstes unter Komprimierung der Stützenfunktionen vom Kantonierten Pfeiler her entwickelt wurde, dessen eigentliche Wesensbestimmung dabei aber eine Umwertung erfuhr.

Auch in der Elisabethkirche in Marburg (begonnen 1235) (Abb. 2) war schon der Kantonierte Pfeiler an die Grenze seiner Ausdrucksfähigkeit innerhalb des „klassisch“ gotischen Struktursystems gelangt, indem er ebenfalls seiner ursprünglichen Gesamtfunktion als Obergadenträger dadurch entzogen wurde, dass der Obergaden im Hallensystem fehlt; auch dort findet eine Umwertung des Kantonierten Pfeilers statt, indem er nun in seiner Gesamtheit unmittelbar – ohne Zwischenschaltung eines Obergadens – mit dem Gewölbe in Beziehung gesetzt wird: auch dort lässt sich also eine Elementarisierung der Strukturbeziehungen zwischen Stütze und Last feststellen, die in der „klassisch“-gotischen Kathedrale komplexer gegliedert waren. Da aber mit dieser unmittelbaren Inbeziehungsetzung von Pfeiler und Gewölbe in der Elisabethkirche nicht mehr alle Tragefunktionen auf einzelne Dienstglieder verteilt werden, indem die Diagonalrippen auf dem Pfeilerkämpfer frei – ohne zugehörigen Dienst – aufsetzen, wird die strenge symmetrische Form des Kantonierten Pfeilers seiner neuen Gewölbeträgerfunktion eigentlich noch nicht gerecht, und damit wird seine symmetrische Achsenbindung durch die vier Dienste in Frage gestellt. Die Folge für die spätere Entwicklung der an die Stilstufe von Marburg anschließenden Hallenkirchen waren folgende Erscheinungen: entweder Vermehrung der Dienste auf acht (z. B. Mindener Dom, 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts), im klassisch-gotischen Sinne einer gliedbezogenen Strukturbildung, zugleich aber mit der hochgotischen Tendenz zum Bündelpfeiler; oder Eliminierung der Dienste und Rückkehr zum reinen Rundpfeiler, wie er in der Frühgotik ausgeprägt worden war (z. B. Essener Münster, letztes Viertel [Seite-82] des 13. Jahrhunderts); oder Beibehaltung der vierdienstigen Grundform des Kantonierten Pfeilers, dabei aber Konzentration der Gewölberippen und -gurte auf die querachsialen Pfeilerdienste entsprechend dem Alsfelder Prinzip, während der Pfeilerkern ebenfalls wie in Alsfeld zusammen mit den längsachsialen Diensten auf die Scheidebogen bezogen wurde (z. B. Verdener Dom, letztes Viertel des 13. Jahrhunderts) [20]. Angesichts dieser Tendenzen erscheint die Wahl des Kantonierten Pfeilers in Marburg als ein bewusstes „Zitat“ aus der klassischen Kathedralgotik, das möglicherweise seine Begründung in der Geisteshaltung des Bauherrn – des Deutschen Ordens – trug. So erfolgte die hochgotische Umwertung in Marburg unter der entschiedenen Führung des Pfeilers, der dabei gegenüber den klassisch-gotischen Vorbildern eine erhebliche Steigerung in seinen Höhenproportionen erfährt, während sie im äußersten Gegensatz dazu in Alsfeld unter der Führung der Wandfläche vollzogen wird, wobei der Pfeiler an Eigenbedeutung einbüßt und in gedrungene Proportionen schrumpft.

Die Wandfläche bietet den Schlüssel zum Verständnis und zur Einordnung des Alsfelder Basilikabaues. Dass die geschlossene, ungegliederte Wand früher zu sehr als romanisches Traditionsgut betrachtet worden ist, hat nicht zuletzt auch zu der bisherigen frühen Datierung der Alsfelder Basilika um 1240 beigetragen. Natürlich geht dieser basilikale Typus auf eine romanische Tradition zurück, aber seine Wand ist hier keine romanische Mauermasse mehr sondern eine gotische Wandfläche. Das tritt besonders klar am Obergaden in Erscheinung. Die Dienste sind nicht mehr mit der Mauermasse verbundene und ihr verhaftete Wandvorlagen wie in der Romanik, sie sind auch nicht mehr mit Schaftringen und Gesimsverkröpfungen einem festen Wandgrund angeheftet wie in der frühen und zum Teil noch in der „klassischen“ Gotik, sondern sie laufen frei an der Wand entlang, die sich zwischen und hinter ihnen als Fläche ausspannt (Abb. 9). Die Scheidebogen brauchen sich nicht mehr anzuspannen, um die Last der Wand sinnfällig auf die Pfeiler zu übertragen, sondern sie erscheinen nunmehr – soweit sich das aus der Rekonstruktion vorstellen lässt – in gleichem Maße in die Wandfläche eingeschnitten wie die Fenster hoch oben im Obergaden, die mit ihren Laibungsschrägen unplastisch scharf in die Wandfläche einschneiden, und die mit ihrem ausgeschnittenen Maßwerk in kleinem Maßstab das Flächenprinzip der Wand wiederholen. Die weite Wandfläche des Obergadens bedarf nicht mehr der Sichtbarmachung von Stützkräften im Kantonierten Pfeiler, auch wenn dieser sie freilich rein statisch in gleichem Maße trägt wie früher; die zuvor behandelte Umwertung des Kantonierten Pfeilers steht also auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Umwertung des Wandcharakters.

Es mag zunächst schwer fallen, diesen hochgotischen Charakter der geschlossenen Wand zu erkennen, doch kann auch dafür die Analyse hochgotischer Bauwerke aus dem Bereich der Kathedralbaukunst weiterhelfen. Es war bereits am Beispiel von St. Denis (Abb. 13) darauf hingewiesen worden, daß dort mit dem Bündelpfeiler eine romanische Grundform wieder aufgegriffen wurde, die dabei ihren romanischen Massencharakter aber verlor und in ein spezifisch hochgotisches Strukturgebilde umgeprägt wurde. Die über den Obergaden hochgeführten Bündeldienste von St. Denis spannen nun die mit Maßwerk vergitterten Fensterflächen ähnlich folienhaft zwischen sich aus wie in Alsfeld die Gewölbedienste am Obergaden die Wandfläche ausspannen. Im Langhaus der Marburger Elisabethkirche (Abb. 2) sind die Fenster als Fensterflächen in die weiten sie umgebenden Wandflächen eingespannt und verdanken dieser Spannkraft, dass der Eindruck des „Schwimmens“ auf der Wandfläche vermieden ist. In diesem Sinne erscheinen demnach Fenster und Wand im hochgotischen Bausystem als Flächenwerte im Prinzip identisch und austauschbar. Tatsächlich finden sich zu dieser Zeit Bauwerke, in denen als Fenster artikulierte Architekturformen nur zum [Seite-83] Teil durchbrochen, zum Teil dagegen vermauert sind: z. B. in der Liebfrauenkirche zu Trier (1242 im Bau, deren Bausystem mit dem der Marburger Elisabethkirche nahe verwandt ist), in der Marienkirche zu Lübeck (1268 im Bau, wo die vermauerten Partien Wandmalereien erhielten, die den Glasmalereien in den verfensterten Partien entsprachen), oder in der Stiftskirche zu Weißenburg im Elsass (um 1284 begonnen, wo sich ähnlich wie im Alsfelder Bausystem Kantonierte Pfeiler finden, deren Mittelschiffsdienste ohne Unterbrechung zum Obergaden durchgeführt sind).

Die äußerste Konsequenz aus dieser Umwertung der Wand zogen zuerst die Bettelorden, die dabei an die nach strenger Ordensregel ausgeprägten Bautraditionen der Zisterzienser anknüpften und sich auch deren Fähigkeit zu eigen machten, überkommene Formen in neue Gehalte zu assimilieren. Zu den ältesten Bauwerken dieser Art in Deutschland gehört die Minoritenkirche in Köln (Abb. 14), deren basilikales Langhaus 1259 begonnen wurde. Dieses Langhaus zeigt ein Bausystem das – bei allen Unterschieden in den Proportionen – im Prinzip bereits mit dem Bausystem der Alsfelder Walpurgis-Basilika übereinstimmt: Kantonierte Pfeiler, weitgespannte Wandflächen am Obergaden mit einfachen Rundstabdiensten sowie in die Wandfläche eingeschnittenen Fenstern. Die Mittelschiffsdienste werden zwar am Pfeilerkämpfer noch durch ein Kapitell unterbrochen, setzen darüber aber schon ohne neue Basis wieder an (wie in den „klassischen“ Kathedralen zuerst in Amiens) und bedürfen auch nicht mehr der Hinzufügung begleitender Dienststäbe, um die Gewölbeglieder aufzunehmen: Gurte und Rippen von bereits gleichem Birnstabprofil (wie in Alsfeld, im Gegensatz zur Marburger Elisabethkirche, wo die Gurte im Langhaus noch entsprechend dem „klassisch“-gotischen Struktursystem kräftiger gebildet waren als die Rippen); schließlich wird der Obergaden gegen die Gewölbe durch ein schmales Schildbogenprofil abgegrenzt. In den beiden zuerst begonnenen Ostjochen ist das Scheidebogenprofil noch kräftig plastisch gebildet, während in den späteren westlichen Jochen das Profil einfach gestuft und durch Fasen abgeschliffen wird, in gleicher Weise, wie es für Alsfeld zu rekonstruieren ist. In den östlichen Jochen sind die Kämpferbänder der Pfeiler und die Kapitelle der Dienste noch mit Laubwerk geschmückt, während in den jüngeren Bauteilen der Schmuck spärlicher wird bis zu kahlen Kelchformen, wie sie in Alsfeld die Kämpferbänder der Pfeiler zeigen. Das Bemerkenswerte an diesem kargen Bausystem hinsichtlich der Begriffsbildung des „Hochgotischen“ daran ist, dass es entwickelt wurde angesichts des nur wenige hundert Meter davon entfernt aufwachsenden Kölner Domchores, mit dessen Bau schon elf Jahre früher begonnen worden war, so dass demzufolge die Wahl dieses scheinbar „romanisierenden“ Bausystems „nicht auf eine Unkenntnis des französischen gotischen Stils zurückgeführt werden kann“ [21]. Im Hinblick auf die Einordnung der Alsfelder Walpurgiskirche ist an der Kölner Minoritenkirche ferner bemerkenswert, dass sie mit dem Chor vor der Jahrhundertmitte zunächst nach einem anderen Plan begonnen worden war, der eine Hallenkirche nach dem Vorbild der Marburger Elisabethkirche vorsah, und dass die Wahl der Kantonierten Pfeiler in dem zufolge einer Planänderung als Basilika errichteten Langhaus wahrscheinlich noch auf diesen ersten Plan zurückzuführen ist [22], Wenn also zwar direkte Beziehungen des Alsfelder Baues zur Elisabethkirche auszuschließen sind, so stand er mit ihr doch indirekt in einer gewissen Beziehung über den Bautyp der Kölner Minoritenkirche.

Dieser fand bald weite Verbreitung, und auch der dabei für Alsfeld zur Einordnung in Frage kommende Umkreis bleibt stilistisch weitgehend im Spannungsfeld zwischen der Trierer Liebfrauenkirche und der Marburger Elisabethkirche. Es gehören dazu die Langhäuser der beiden einander benachbarten Stiftskirchen von Münstermaifeld in der Eifel und Karden an der Mosel, wo abweichend vom System der Kölner Minoritenkirche gedrungenere Proportionen eingeführt werden, wobei Karden (Abb. 15) [Seite-84] auch schon eine mit Alsfeld vergleichbare Pfeilerproportion ausbildet. Ferner kommen in Münstermaifeld und Karden gegenüber dem Kölner System kleine Blenden als Gliederung der Wandfläche zwischen Arkaden und Obergadenfenstern hinzu. Dieses etwas erweiterte System findet sich auch im Langhaus der Zisterzienserkirche von Marienstatt im Westerwald, doch scheint dies für Alsfeld weniger verbindlich gewesen zu sein als die nun folgenden Beispiele aus dem Umkreis der Kölner Minoritenkirche. Da ist zunächst die Christophskirche in Mainz in Betracht zu ziehen (Abb. 16), deren Kantonierte Pfeiler ähnlich gedrungen sind wie in Alsfeld (wie es auch Karden schon zeigte). Hier in Mainz ist die Herauslösung des Mittelschiffsdienstes aus der Pfeilergrundform so weit getrieben, dass der Dienst überhaupt erst über dem Pfeilerkämpfer auf einer Konsole ansetzt. Die übrigen Einzelheiten sind eng verwandt mit Alsfeld: die einfachen Rundstabdienste nehmen die verschiedenen Gewölbeglieder gemeinsam auf, von denen Gurte und Rippen einheitlich gebildet sind; die Scheidebogen sind in abgefasten Stufen profiliert, die Fenster in ihren Ausmaßen geschrumpft. – Alle diese bisher genannten Kirchen aus dem Umkreis der Kölner Minoritenkirche entstammen der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, ohne dass genauere Daten bekannt sind.

Die engsten Übereinstimmungen mit Alsfeld in der Systematik des Aufbaues bei allerdings abweichender Proportionierung zeigt die Benediktiner-Abteikirche in Tholey im Saarland (Abb. 17). Zwar ist hier der Aufriss noch wie in Köln steiler, aber zum ersten Mal findet sich die gleiche Form des Kantonierten Pfeilers mit dem ununterbrochen über dem schmucklosen Pfeilerkämpfer hochgeführten Mittelschiffsdienst wie in Alsfeld [23]. In Tholey findet sich das gefaste Stufenprofil der Scheidebogen, wie es in Alsfeld zu rekonstruieren ist. Es finden sich Obergadenfenster, deren an sich schon kleiner Umriss noch verkleinert wird durch eine teilweise Vermauerung, und [Seite-85] deren Maßwerkfüllungen in den älteren Bauteilen mit den erhaltenen Obergadenfenstern von Alsfeld nahezu übereinstimmen. Die Benediktinerkirche in Tholey wurde nach einem Brand 1261 als Neubau begonnen; die Kenntnis ihres basilikalen Systems muss – direkt oder indirekt – für die Ausprägung der Alsfelder Basilika zu Grunde gelegen haben.

Schließlich ist noch auf einen weiteren Bau in Oberhessen hinzuweisen, der von Alsfeld unabhängig in diesen Umkreis einzuordnen ist, und auf den bei der Erörterung der Walpurgiskirche bereits Frankl (1902) und Meyer-Barkhausen (1927) verwiesen haben: auf die Pfarrkirche in Geiß-Nidda / Kreis Büdingen. Die Stilformen weichen hier ab, sind gelnhäusisch, doch ist für das Bausystem der gleiche Vorbildkreis anzunehmen wie für Alsfeld. Da hier Kantonierte Rundpfeiler abwechseln mit quadratischen Pfeilern, die entsprechend mit Diensten besetzt sind (eine seltene Form), müsste hier evtl. der Vorbildkreis auch noch auf ein oberrheinisches Beispiel ausgedehnt werden: die Pfarrkirche in Lahr (Südbaden), die die gleiche seltene Pfeilerform zeigt, und die nun ihrerseits auch für Alsfeld interessant ist, weil dort die Obergadenfenster einen in der Tat vergleichbar winzigen Umriss aufweisen. Die Erbauung der Pfarrkirche zu Lahr wurde um etwa die gleiche Zeit begonnen (1259) wie die der Benediktinerkirche in Tholey (1261). Darüber hinaus ist der Vergleich mit einem oberrheinischen Beispiel insofern von Interesse, als eines der führenden Bauwerke der Gotik in diesem Gebiet, das Freiburger Münster, auch in dem von Saint-Denis über Straßburg herzuleitenden Einflusszusammenhang zu einem ähnlichen Bautypus für das basilikale Langhaus gelangt, wie ihn im Mittelrheingebiet die Minoritenkirchen zeigen: mit zweigeschossigem Mittelschiffsaufriss und großer blinder Wandfläche zwischen Arkaden und Obergadenfenstern.

Die Schrumpfung der Pfeiler und damit der Arkadenausschnitte in Alsfeld bringt ebenso wie die Schrumpfung der Fenster eine Überbetonung der Wandfläche zur Geltung mit der Tendenz, durch diesen Kontrast der Proportionen den Eindruck der an sich geringen absoluten Raumdimensionen zu steigern. Die Vergleichsbeispiele zeigten, dass diese Tendenz noch nicht in Köln selbst, sondern erst in der Nachfolge der Kölner Minoritenkirche, in Karden und Mainz, ausgeprägt worden war. [Seite-86]

Als Ganzes hat also das basilikale Bausystem des Alsfelder Langhauses in der Kölner Minoritenkirche seine typologische Ausprägung gefunden und in der Benediktinerkirche zu Tholey sowie in mancher Hinsicht auch in der Christophskirche zu Mainz eine stilistische Entwicklungsstufe erreicht, die als unmittelbares Vorbild für die Walpurgiskirche in Betracht zu ziehen ist. Als wesentliche Konsequenz für die Baugeschichte der Alsfelder Walpurgiskirche ergibt sich daraus eine erheblich spätere Datierung als bisher angenommen wurde: statt um 1240 erst nach 1261, dem Jahr des Baubeginns von Tholey.

Um die Datierung näher einzugrenzen, ist noch ein ergänzender Blick auf die stilistische Ausprägung der Einzelformen zu werfen. Für den alten Chor der Walpurgiskirche konnte als Vorbild die im Arnsburger Kapitelsaal ausgeprägte Stilstufe ermittelt werden, die nach der Mitte des 13. Jahrhunderts anzusetzen ist. Damit wird schon eine spätere Datierung des basilikalen Langhauses bestätigt, dessen Bausystem gegenüber dem alten Chor als fortschrittlicher erkannt worden war. Der Knospen- und Blattschmuck der Dienstkapitelle im Alsfelder Langhaus bleibt jedoch noch der gleichen Arnsburger Stilstufe verhaftet, wo sich im Kapitelsaal die nächsten Vergleichsbeispiele finden (Abb. 7). Das ausgeschnittene Fenstermaßwerk findet sich in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts sehr häufig, und zwar sowohl im Marburger [24] und im Arnsburger Umkreis [25], als auch im Umkreis der Minoritenbaukunst [26], wo auf die vergleichbaren Fensterformen von Tholey bereits hingewiesen wurde.

Mit diesen stilistischen Vergleichsbeispielen lässt sich die Datierung der Alsfelder Langhausbasilika in das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts eingrenzen. Eine so späte Datierung war bisher im Hinblick auf die 1235 begonnene Marburger Elisabethkirche und im Hinblick auf die schnelle Ausbreitung ihres Hallensystems in der hessischen Umgebung für unmöglich gehalten worden.

Die Zuordnung der Alsfelder Langhausbasilika zu einem ausgeprägten und festumrissenen hochgotischen Bautypus, dem der mittelrheinischen Minoritenkirchen, macht diese späte Zeitstellung im Verhältnis zu der in allernächster Nähe seit 1235 entstehenden Elisabethkirche zu Marburg überhaupt erst verständlich. Es handelt sich demnach in Alsfeld nicht – wie bisher angenommen wurde – um ein provinziell-konservatives Verharren in romanischen Gewohnheiten gegenüber dem noch unverstandenen Marburger Vorbild, sondern vielmehr um eine demgegenüber selbständige Lösung, vergleichbar mit dem Verhältnis der Kölner Minoritenkirche zum Kölner Dom: natürlich war dem Alsfelder Meister der nahe Marburger Bau bekannt, und ebenso ist es möglich, dass er auch schon in der Umgebung davon angeregte Hallenkirchen im Entstehen sah. Die Systemfrage (ob Halle oder Basilika) ist von der kunstgeschichtlichen Forschung – soweit es das 13. Jahrhundert betrifft – sicherlich zuweilen überschätzt worden. Die in der späteren Entwicklung der deutschen Gotik entstandene Polarität zwischen der Halle als fortschrittlichem und der Basilika als konservativem Bausystem lässt sich nicht in das 13. Jahrhundert zurückprojizieren, auch wenn sie darin ihren stilgeschichtlichen Keim findet. Zur Zeit seiner Entstehung würde das Hallensystem der Elisabethkirche zu Marburg, so neuartig es sowohl als gotisches Stilgebilde in Deutschland als auch als Bautypus erscheint, in Hinblick auf die programmatische Beibehaltung des Kantonierten-Pfeiler-Systems der klassischen Kathedralgotik eher als „konservativ“ zu beurteilen sein. Dagegen wäre die Entscheidung einer Stadtgemeinde wie der Alsfelder, ihre Stadtkirche nicht nach dem Vorbild neuerbauter Stiftskirchen in Marburg, Wetter oder Haina auszurichten, sondern nach einem ebenso neuen Bautypus, der von den Bettelorden als spezifische Predigtkirche ausgeprägt worden war und damit den geistlichen Bedürfnissen der hochmittelalterlichen Stadtgemeinde unmittelbar entsprach, eher als „fortschrittlich“ anzusehen. Die weitere [Seite-87] Entwicklung der gotischen Baukunst in Deutschland hat zwar gezeigt, dass unter den gleichen Aspekten gerade der Hallentypus für Stadtkirchen breitere Aufnahme gefunden hat, doch war für die im Gegensatz zu Alsfeld in Hessen schnell erfolgte Ausbreitung des Marburger Hallensystems auch in Stadtkirchen weniger die Systemfrage entscheidend, als die Vorbildkraft der Marburger Einzelleistung und der Umstand, dass es sich dort um die Verehrungsstätte der Heiligen Elisabeth handelte. Demgegenüber behauptet sich Alsfeld mit dem zu seiner Zeit modernen Predigtkirchentypus.

Die Alsfelder Langhausbasilika kann also nicht mehr mit Wilhelm-Kästner als „rustikale Reduzierung des Marburger Langhaussystems“ angesehen werden, die – wie schon Frankl (1902) annahm – „konservativ an der in Hessen bisher einheimischen basilikalen Anlage festhielt“, weil Alsfeld vom großen Weltverkehr abseits“ lag, sondern sie ist als eine durchaus eigenständige Leistung im Typus einer hochgotischen mittelrheinischen Bettelordenskirche anzusehen und als solche in das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts zu datieren.

Das südliche Seitenschiff ist in seinen unteren Teilen bisher auch dem Bestande der ursprünglichen Basilika-Anlage zugerechnet worden, der bei dem späteren Hallenumbau lediglich aufgestockt worden sei. Dafür sprachen die kurzen Dienste an seiner Südwand, die auf ein basilikal niedriges Seitenschiffsgewölbe Bezug zu nehmen schienen, und für die sich in dem hohen Hallenseitenschiff sonst keine andere Deutung fand, als dass sie auf den älteren basilikalen Bestand zurückgehen müssten (Abb. 18). Gegenüber diesem eindeutig erscheinenden Befund hat niemals die Tatsache Verdacht erregt, dass sich am aufgehenden Mauerwerk, insbesondere am Äußeren mit seinen kräftigen Strebepfeilern, keinerlei Anzeichen einer Aufstockung erkennen lassen.

Die jüngst durchgeführten Ausgrabungen brachten nun neue Befunde zu Tage, die die bisherige Deutung widerlegen. Es wurden in beiden Seitenschiffen die Fundamente älterer Seitenwände aufgedeckt. Im nördlichen Seitenschiff war dieser Befund bereits seit der letzten Kircheninstandsetzung von 1911/1914 bekannt, woraus man damals den Beweis ableitete, dass das nördliche Seitenschiff vor seiner späteren erheblichen Verbreiterung ursprünglich die gleiche Breite gehabt habe, wie sie das südliche Seitenschiff angeblich noch aufwies [27]. Man hatte allerdings nicht genau gemessen: aus dem Grabungsbefund ergab sich als lichte Breite des nördlichen Seitenschiffes etwa 3.20 / 3.30 m, während das bestehende südliche Seitenschiff gut 1 m breiter ist. Bei den neuerlichen Ausgrabungen wurde nun auch im südlichen Seitenschiff ein entsprechender Fundamentzug gefunden, der genau die gleiche ursprüngliche Seitenschiffsbreite anzeigt wie im nördlichen Seitenschiff.

Außerdem traten bei den jüngsten Ausgrabungen die Sockel der Wanddienste an der südlichen Seitenschiffswand zu Tage, deren Profilformen erheblich von denjenigen der Mittelschiffspfeiler und des alten Chores abweichen und weiter entwickelt erscheinen (Abb. 19). Dabei ist bemerkenswert, dass sich diese Sockel einheitlich bei allen Diensten der südlichen Seitenwand finden, von denen nur vier „basilikal“ kurz sind [28], während der östliche Eckdienst ohne Unterbrechung hochgeführt ist bis zum Kämpfer des bestehenden Gewölbes. Dagegen fanden sich in einem Altarfundamen vor der Ostwand des südlichen Seitenschiffes in der Achse seiner jetzigen Breite ältere Werksteine vermauert, von denen einer die Basis offenbar eine Fensterlaibung enthält, die das gleiche Profil wie das der Pfeilersockel des Mittelschiffes aufweist (Abb. 11). Es hat also nach Fertigstellung des erweiterten Seitenschiffes Abbruchmaterial zur Wiederverwendung zur Verfügung gestanden, das aus Bauteilen stammte, [Seite-88/89] die mit dem basilikalen Mittelschiff einheitlich entstanden waren – also offenbar von den Seitenwänden des ursprünglich niedrigeren und schmaleren Seitenschiffes.

Diese Befunde gaben Anlass zu einer genaueren Überprüfung der im südlichen Seitenschiff vorhandenen Einzelformen. Dabei wurde erkannt, dass auch die Dienstkapitelle der kurzen Dienste unter der Seitenschiffsempore mit denjenigen der langen, bis an die Gewölbe hochgeführten Dienste genau übereinstimmen – abweichend von der Kapitellbildung im Mittelschiff (Abb. 19). Nun weicht die Kämpferhöhe der kurzen Wanddienste um ein Geringes von der Kämpferhöhe der Arkadenpfeiler ab, ist etwas tiefer angesetzt als jene; dementsprechend sind auch die seitenschiffseitigen Pfeilerdienste nicht als Verkröpfung des Pfeilerkämpferbandes gebildet, sondern daraus herausgelöst etwas tiefer angebracht (Abb. 18). Als einziges dieser Pfeilerdienstkapitelle ist das des 1. Pfeilers von Westen bei der Instandsetzung von [Seite-90] 1913/1914 nicht erneuert worden, sondern noch im mittelalterlichen Bestand erhalten [29] (Abb. 19). Auch dieses Kapitell weist die gleiche – von den übrigen Pfeilerdienstkapitellen abweichende – Profilbildung auf wie die Wanddienstkapitelle des südlichen Seitenschiffes. Bei genauerer Betrachtung wird am unsauberen Anschluss dieses Kapitells an den Pfeilerkern offenbar, dass es nachträglich angefügt worden sein muss. Der tiefere Ansatz der Seitenschiffskapitelle gegenüber dem Pfeilerkämpfer kann nur in Verbindung mit der Verbreiterung des Seitenschiffes gegenüber seiner ursprünglich um ca. 1 m schmaleren Anlage eine Erklärung finden, wenn man annimmt, dass darauf Gewölbe aufsetzen sollten, deren Scheitelhöhe bei größerer Weite die gleiche Höhe erreichen sollte wie zuvor, das heißt: die sich den ursprünglichen Scheidebogen anpassen sollten.

Demnach scheinen hier nach der geringen Verbreiterung wiederum niedrige Seitenschiffsgewölbe angelegt worden zu sein – jedenfalls in den drei westlichen Jochen, während im östlichen Joch des südlichen Seitenschiffes die Wanddienste bis nach oben, bis zur Kämpferhöhe der bestehenden Seitenschiffsgewölbe hochgeführt worden sind. Dennoch scheint hier nicht wieder ein basilikal niedriges Seitenschiff geplant gewesen zu sein, für das sich ein derart umfangreicher Umbau bei der nur geringfügigen Verbreiterung auch kaum gelohnt haben dürfte. Dagegen erhielte die so [Seite-91] eigentümlich geringfügige Verbreiterung nur dann einen Sinn, wenn man sie im Zusammenhang einer Seitenschiffserhöhung sieht, für die die alten Wände und Fundamente zu schwach waren.

Diese Diskrepanz löst sich auf, wenn man die Seitenschiffserweiterung im Zusammenhang mit einer Emporenplanung sieht. Im früheren 14. Jahrhundert wurden in den Pfarrkirchen von Ahrweiler im Rheinland (Abb. 20) und Dausenau an der unteren Lahn dreischiffige Hallenkirchen mit massiven Emporen in den Seitenschiffen angelegt, wobei nur jeweils das östliche Joch frei blieb, das auf diese Weise im Inneren querschiffartig in Erscheinung tritt. Nach diesen Vorbildern wäre eine entsprechende Emporenplanung auch in Alsfeld denkbar. Dementsprechend sind im südlichen Seitenschiff der Walpurgiskirche die Fenster des Ostjoches in voller Höhe durchgeführt, während sie nur in den drei übrigen Jochen in der Mitte unterbrochen sind (Abb. 21) – und zwar war auch das Fenster des Westjoches, das am Äußeren in Symmetrie [Seite-92] zum Ostjoch in voller Höhe durchgeführt erscheint, im Inneren schon von Anfang an zweigeschossig angelegt mit einer nachweislich ursprünglichen Sohlbank in der Höhe des oberen Fensteransatzes der beiden mittleren Joche. Demnach hatte man hier also vorgehabt, die kurzen Mittelschiffspfeiler bei der Hallenerweiterung beizubehalten und in den drei westlichen Jochen über den niedrigen Scheidebogen Emporen anzulegen, mit weiten Öffnungen auf das Mittelschiff. Die weitere Durchführung dieses Planes unterblieb, weil man bald andere Pläne fasste.

Zunächst ist aber noch auf die Datierung dieser Erweiterung des südlichen Seitenschiffes einzugehen. Dafür geben die Maßwerkformen einen wertvollen, bisher nur zu wenig beachteten Anhalt (Abb. 21). Diese sind mit ihren dreifach „gestapelten“ Rosetten (3. Joch von Westen), dem Dreistrahlmotiv (2. Joch) und mit ihren segmentbogigen Dreiecken (1. Joch) und Vierecken (4. Joch) straßburgisches Formengut [30]. Dort fanden sie ihre charakteristische Ausprägung auf dem um 1275 entstandenen, Meister Erwin von Steinbach zugeschriebenen Riss B für die Fassade des Münsters. Nach Hessen wurden diese Formen zum Teil noch im ausgehenden 13. Jahrhundert übertragen; vollständig in der hier vorliegenden Ausprägung sind sie um die Mitte des 14. Jahrhunderts eingeführt; dabei kommen als Vermittler vor allem Friedberg oder Frankenberg in Betracht. Das Dreistrahlmotiv erscheint wohl schon vor der Jahrhundertwende im großen Westfenster der Marburger Elisabethkirche; in näher vergleichbarer Form mit den in die Dreistrahl-Zwickel eingefügten segmentbogigen Dreiecken vor 1359 am Wimperg über dem Westportal der Stadtpfarrkirche in Frankenberg. Die gestapelten Rosetten erscheinen um 1300 am Langhaus von St. Stephan in Mainz, am Chorschluss der Liebfrauenkirche in Friedberg, am Südquerhaus des Domes zu Wetzlar, am Nordquerhaus des Domes zu Fritzlar, sowie um die Mitte des Jahrhunderts am Langhaus der Stadtpfarrkirche in Marburg. Das aus einwärts und auswärts gerichteten gebogenen Dreiecken gefügte Rosettenmotiv des 1. Joches des Alsfelder südlichen Seitenschiffes erscheint zu Anfang des 14. Jahrhunderts in der Rose über dem Südportal am Langhaus der Stadtpfarrkirche in Frankenberg. Das am Freiburger Münster im 2. Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts ausgeprägte Motiv der drei zueinander geordneten gebogenen Vierecke (4. Joch in Alsfeld) erscheint am Südturm der Marburger Elisabethkirche nach 1314, am Langhaus der Liebfrauenkirche in Friedberg gegen 1320/1340, und um die Mitte des Jahrhunderts am Neubauchor der Stadtpfarrkirche in Frankenberg. Das aus einer Kreisbogenüberschneidung gebildete Dreistrahlmotiv des Ostfensters des südlichen Seitenschiffes findet sich am Langhaus der Liebfrauenkirche in Friedberg gegen 1320/1340. Demzufolge ist die Erweiterung des südlichen Seitenschiffes der Alsfelder Walpurgiskirche mit dem Ausbauplan als Emporenhallenkirche vor oder um die Mitte des 14. Jahrhunderts anzunehmen, also noch lange vor Errichtung des höheren Neubauchores.

Die Erweiterung und Erhöhung des nördlichen Seitenschiffes erfolgte nach Ausweis des gemeinsamen Sockelprofils und des fugenlos durchgeführten Quadermauerwerks einheitlich mit dem Neubau der zweigeschossigen Sakristei sowie mit der Ummantelung und Aufstockung des offenbar im Kern schon älteren Wendeltreppenturmes im Winkel zwischen Sakristei und Chor. Der Anschluss dieses Wendeltreppenturmes an den Chor erweist mit Sicherheit, dass dieser ganze Bauteil errichtet wurde als der alte Chor noch stand und der Neubauchor noch nicht geplant war: Sockelgesims und Quadermauerwerk der rechtwinkligen Ummantelung des Wendeltreppenturmes reichen nämlich nicht bis an die anschließende Wand des Neubauchores heran, sondern lassen dazwischen noch einen etwa 40 cm breiten Streifen in Bruchsteinmauerwerk frei (Abb. 22). Dieser Streifen entspricht genau der Differenz der [Seite-93] Mauerstärken zwischen dem stärkeren Mauerwerk des alten Chores und dem dünneren Mauerwerk der neuerrichteten Wände des spätgotischen Neubauchores (ca. 95 cm). Daraus ist zu folgern, dass der Wendeltreppenturm (bzw. seine äußere Ummantelung) noch an den bestehenden alten Chor angebaut worden ist. [Seite-94]

Zugleich wurde die alte Chorwand in dem an die Sakristei anschließenden Bereich in gleichbleibender Mauerstärke aufgestockt bis zur Höhe des Dachgesimses der hallenmäßig erhöhten Seitenschiffe (dies entspricht der Höhe des alten Dachgesimses des vor dem basilikalen Mittelschiffes) [31]. Dieser Befund zeugt davon, dass im Zuge der Aufstockung des Langhauses auch schon ein erster Chorneubauplan gefasst worden war, der die gleiche Höhe für den Chor wie für das einheitlich aufgestockte Langhaus vorsah; dieser erste Chorneubauplan war mit der Erhöhung der alten Chornordwand bereits in ein erstes Ausführungsstadium gelangt, bevor er durch den Plan für den 1393 begonnenen, bestehenden, noch wesentlich höheren Chor ersetzt wurde. Die Maßwerkformen im nördlichen Seitenschiff bestätigen eine Datierung dieser Bauphase in das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts: Vergleiche finden sich aus dieser Zeit beispielsweise an den Bettelordenskirchen in Erfurt, wo etwa das um 1370 entstandene Westfenster der Barfüßerkirche ungefähr übereinstimmt mit dem Fenster im 3. Joch des nördlichen Seitenschiffes der Walpurgiskirche in Alsfelds [32].

Die Erweiterung des nördlichen Seitenschiffes erfolgte nach einem neuen Plan, der über das hinausging, was man auf der Südseite zunächst angestrebt hatte: offenbar sollten jetzt die alten Mittelschiffspfeiler nicht mehr beibehalten bleiben sondern einem neuen Hallenausbaukonzept weichen. Vermutlich sah man daher nunmehr vor, erst noch die Erneuerung des Chores nach gleichem Plan abzuwarten, bei dem er auf gleiche Höhe aufgestockt werden sollte, um erst danach den ganzen inneren Ausbau des Langhauses hallenmäßig neu zu gestalten mit neuen höheren Pfeilern. Deshalb blieben die erhöhten Seitenschiffe zunächst ungewölbt und deshalb wurden die ursprünglichen Scheidebogen und Obergaden zwischen dem Mittelschiff und den auf gleiche Höhe gebrachten Seitenschiffen vorerst beibehalten, weil sie erst später einer einheitlichen Neugestaltung weichen sollten. Es handelt sich dabei um das übliche Verfahren bei mittelalterlichen Kirchenumbauten, etappenweise vorzugehen, um (wie bei dem bereits erwähnten Verfahren bei Kirchenneubauten an der Stelle älterer, abzubrechender Bauten) ständig einen benutzbaren Raum für die kirchlichen Handlungen zur Verfügung zu haben: während der Seitenschiffserweiterungen wurde der Innenraum überhaupt nicht berührt, weil bis zu deren Vollendung die ursprünglichen Seitenschiffe stehen bleiben konnten und erst danach abgebrochen werden mussten.

Erst für den inneren Ausbau des Kirchenschiffes hätte dieses vorübergehend verlassen werden müssen: deshalb dürfte der Wunsch bestanden haben, als nächstes den Chor den neuen Plänen entsprechend zu erneuern und wohl auch zu erweitern, um während der Bauarbeiten im Langhaus einen Ausweichraum zur Verfügung zu haben.

Eine derartige etappenweise Verfahrensweise ist vielfach belegt und nachweisbar, hier in der Walpurgiskirche haben wir ein selten eindrucksvolles Dokument diese: Vorganges vor Augen, denn der provisorische Zwischenzustand blieb bestehen, weil die Durchführung des inneren Ausbaues des Langhauses nicht mehr zustande kam. Sie wurde durchkreuzt von einer weit ausgreifenden Planänderung, die eine erhebliche Steigerung der Höhenmaße vorsah, und bei der sich schon nach Vollendung von Chor und Turm herausstellte, dass sie wieder aufgegeben werden musste – vielleicht nicht nur, weil dieser letzte Plan die finanziellen Kräfte der Stadt doch überstieg, sondern auch, weil der Bauenthusiasmus mit dem zur Neige gehenden Mittelalter verebbte.

So wurde erst hundert Jahre nach dem Umbau der Seitenschiffe, laut Inschrift 1472, das im provisorischen Zwischenzustand verbliebene Langhaus als Nicht-mehr-Basilika und Noch-nicht-Halle gewölbt, um die langwährende Bautätigkeit endlich zu einem erschöpften Abschluss zu bringen. Dabei blieben die ursprünglichen Scheidebogen und Obergadenwände zunächst noch vollständig erhalten; die Arkaden wurden erst gegen 1723 im heutigen Umfang notdürftig erweitert [33]. [Seite-95]

Es wird nicht ganz deutlich, ob das nördliche Seitenschiff von Anfang an mit oder ohne Empore gedacht war: die allenthalben in voller Höhe durchgeführten Seitenschiffsfenster und die erhebliche Raumverbreiterung würden dafür sprechen, dass zunächst keine Seitenempore geplant war; dagegen spricht das allseitige Fehlen von Diensten, wobei die Gewölbe wie über der südlichen Seitenschiffsempore von Konsolen abgefangen werden. Jedenfalls waren die Seitenschiffsemporen höchstwahrscheinlich nicht gleich bei der Erhöhung der Seitenschiffe eingebaut worden, sondern sollten erst im Zusammenhang mit dem inneren Ausbau der Halle ausgeführt werden. Da dieser unterblieb und das Langhaus erst 1472 mit der Einwölbung provisorisch vollendet wurde, dürften die Emporen auch erst zu dieser Zeit zur Ausführung gekommen sein. Im späteren 15. oder frühen 16. Jahrhundert lässt sich jedenfalls das Bestehen einer Empore im südlichen Seitenschiff nachweisen durch die spätgotische teppichmusterhafte Wandbemalung über dem Anschluss der Empore an die Seitenwand, die 1913 aufgedeckt und erneuert worden ist. Diese südliche Seitenschiffsempore erhielt damals die noch heute bestehende steil ansteigende Anordnung, weil die Höhe ihres Anschlusses an die Seitenwand durch deren nach anderem Plan vordem ausgeführte Geschoßteilung festgelegt war, während die vordere Brüstungshöhe tiefer gelegt werden musste, weil die Scheidebogen und Obergadenwände vorerst bestehen blieben. Hinter den Scheidebogen blieben die Emporen des südlichen Seitenschiffes zunächst weitgehend versteckt, und ihre vordere Brüstung verlief ursprünglich auch weiter zurück, unmittelbar hinter den Arkaden, über den dort auch heute noch erhaltenen alten hölzernen Emporenstützen. So werden die Emporen noch 1664 in einer Alsfelder Chronik als „hinter“ den Scheidebogen beschrieben [34]. Eine Sichtverbindung von den Emporen zum Mittelschiff bestand also zunächst nur durch die oberen Zwickel der Arkaden. Auch für diese seltsame Notlösung ist ein Vergleichsbeispiel belegt in der Gelnhäuser Marienstiftskirche, deren Seitenschiffe 1446 aufgestockt und mit Emporen versehen wurden, ohne dass dabei die Langhausarkaden erweitert worden wären. Dort war diese Notlösung von noch längerer Dauer: bis 1877 die Emporen wieder entfernt wurden [35]. – Übrigens bestand auch schon zur Zeit der erwähnten Chronik vor der steinernen Westempore im Mittelschiff eine vorgebaute hölzerne Empore, auf die das alte Chorgestühl für Bürgermeister und Rat verbracht worden war; diese Empore wurde 1913/1914 wieder entfernt, um die davon verdeckten, damals wieder aufgefundenen Wandmalereien freizulegen. Diese hölzerne Ratsempore reichte bis in das nördliche Seitenschiff hinein und schloss dort an die Seitenempore an, womit für spätestens 1664 auch deren Bestehen gesichert ist.

Die Erweiterung der Seitenschiffe zeugt zweifellos von dem Wunsch, die Basilika nach dem Vorbild des inzwischen in den Stadtkirchen der hessischen Umgebung durchgesetzten Hallentypus als Halle umzubauen (z. B. in Friedberg und Frankenberg, Stadtpfarrkirche zu Marburg und ehem. Stadtkirche in Grünberg). Innerhalb der sonst ganz an Marburg orientierten hessischen Gotik verdient aber Beachtung die Tatsache, dass man sich dabei zunächst an einem rheinischen Emporenhallentypus orientiert hatte.

Nachdem die Seitenschiffe um die Mitte des 14. Jahrhunderts erweitert worden waren und auch schon nach gleichem Plan eine einheitliche Erhöhung des Chores begonnen worden war, kam es zu einer eingreifenden Planänderung mit fast verdoppelten Höhendimensionen. Nach diesem neuen Plan wurden Chor und Turm ausgeführt, mit denen wir den festen Boden einer durch inschriftlich überlieferte Daten gesicherten Baugeschichte betreten: 1393 wurde der Chor begonnen, 1394 der Turm. Bei einem derart umfassenden Erweiterungs- und Neubauplan ist der gleichzeitige Beginn mit Chor und Turm beiderseits des solange noch benutzbaren Langhauses – wie wir [Seite-96] bereits oben sahen – üblich und man muss sich – auch wenn hier für 1394 der Einsturz des alten Turmes als Anlass für seinen Neubau überliefert wird – klarmachen, dass es für ein in fast doppelte Höhendimensionen gesteigertes Kirchengebäude auch eines entsprechend höheren Turmes bedarf [36]. Ein Vergleich mit der um 1340 begonnenen Stadtkirche in Homberg an der Efze lässt vermuten, dass dieser Alsfelder Neubauplan eine ähnliche Anlage des hessischen Hallentypus anstrebte; die Verwandtschaft zwischen beiden Bauten lässt sich an Profilen und Maßwerkformen nachweisen. Möglicherweise kamen hier in Alsfeld außerdem auch noch wiederum rheinische Einflüsse hinzu, auf die die sogenannten Parlerbüsten an den Strebepfeilern des Chores hindeuten [37] (Abb. 23).

Auch die Emporen des Chores reichen weit zurück und können teilweise schon der Zeit des endgültigen Langhausausbaues entstammen. 1550–1552 wird jedenfalls eine Orgel auf der Nordseite aufgestellt: vermutlich auf die heute noch dort befindliche Empore, denn das in deren Konstruktion vorhandene Hängewerk scheint zur [Seite-97] Aufnahme einer besonderen Last bestimmt. Allerdings ist diese Empore nur ziemlich schmal. Mit dieser geringen Breite umlief sie Nord-, Ost- und Südseite des Chores, zugänglich über eine Wendeltreppe in der Südostecke, von der noch Spuren erkennbar sind. Der Ostteil der Empore wurde 1638 vorgezogen, mit einer schön geschnitzten Säule, die inschriftlich dieses Datum überliefert. Beim Anfügen einer Vorkragung an die Ostempore 1913/14 wurde diese Säule allerdings etwas zurück versetzt und hinter einer neuen Stütze versteckt.

Die Vollendung des Turmes schleppte sich bis in nachmittelalterliche Zeit hin: Hans von Frankfurt, der Erbauer des Weinhauses, schuf 1542 den oberen Achteckaufsatz, der damals noch ein Stockwerk höher war als heute, bis er 1836 aus statischen Gründen verkürzt wurde.

Das Mittelalter hat uns die Walpurgiskirche in einem unfertigen Zustand hinterlassen, in dem statt eines einheitlichen Raumeindruckes das allmählich Gewachsene auf besondere Weise in Erscheinung tritt und dem Raumgefüge unter wesentlicher Mitwirkung der Emporeneinbauten und der übrigen Ausstattung einen ganz ungewöhnlichen und eindrucksvollen Charakter vermittelt. Es wurde versucht, den Vorgang dieses allmählichen Zusammenwachsens durch die hier angestellten Überlegungen zu erhellen. Danach folgten im Verlauf der Baugeschichte des bestehenden Bauwerkes vier verschiedene Pläne aufeinander: ein erster Arnsburgischer Plan nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, auf den die Reste des alten Chores und vielleicht auch die Grundrissanordnung des Turmes zurückgehen; ein zweiter, von der mittelrheinischen Bettelordensbaukunst angeregter Plan aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts, auf den die Reste des basilikalen Langhauses zurückgehen; ein dritter Plan aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, auf den der Umbau des Langhauses mit hallenmäßig erhöhten Seitenschiffen zurückgeht sowie die zweigeschossige Sakristei mit dem Wendeltreppenturm; und schließlich ein vierter Plan von 1393, nach dem der bestehende Chor und Turm errichtet wurden. Für diesen letzten Plan kann durch den Vergleich mit Homberg an der Efze wahrscheinlich gemacht werden, dass er einen entsprechenden Ausbau des Langhauses im hessischen Hallensystem vorgesehen haben dürfte. Für den gedrungenen proportionierten inneren Hallenausbau nach dem zu vorgehenden dritten Plan ist unter Hinweis auf Ahrweiler und Dausenau der mittelrheinische Emporenhallentypus in Betracht zu ziehen. Der zweite Plan, der hochgotische Basilikabau, von dem hier die Abtrennung eines ersten arnsburgischen Planes nachgewiesen wurde, erscheint nach den vorgetragenen Überlegungen in durchaus positiverem Licht, als er bisher nach seinem unscheinbaren und verbauten Eindruck beurteilt worden war: nämlich als eine klar konzipierte Bauleistung, die gerade gegenüber der Marburger Elisabethkirche in ihrer Eigenständigkeit deutlich hervortritt. [Seite-98]

Anmerkungen:

*)Manuskript eines am 04.11.1970 vor dem Geschichts- und Museumsverein in Alsfeld gehaltenen Vortrags, mit Anmerkungen versehen sowie auf Grund neuerer archäologischer Erkenntnisse (Ausgrabungen Ende 1971 / Anfang 1972) überarbeitet.

[01] Richard Hamann und Kurt Wilhelm-Kästner, Die Elisabethkirche zu Marburg und ihre künstlerische Nachfolge. I. Band: Die Architektur. Marburg, 1924. Darin über die Walpurgiskirche in Alsfeld: S. 55-57.

[02] Paul Frankl, Zur Baugeschichte der Walpurgiskirche. In: Mittellungen des Geschichts- und Altertumsvereins Alsfeld, 1. Reihe (1902), Nr. 3.

[03] Werner Meyer-Barkhausen, Alsfeld. Marburg, 1927. S. 49, Anm. 11.

[04] Vgl. Karl Dotter, Die Besitzer der Häuser am Kirchplatz zu Alsfeld. In: Mittellungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld. 7. Reihe, Nr. 7 (April 1936), S. 85.

[05] Frankl (1902): um 1240. Meyer-Barkhausen (1927) und Dieter Großmann (Alsfeld. Berlin-München. 1960): um Mitte 13. Jahrhundert. Werner Meyer-Barkhausen (Die Stadtkirche St. Walpurgis in Alsfeld. In: Hessische Heimat, VIII, 1958/1959, Heft 2, S. 19 f.): um 1240. Georg Dehio (Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Hessen. Bearbeitet von Magnus Backes. Berlin-München, 1966. S. 6): Mitte 13. Jahrhundert.

[06] Frankl (1902): um 1472. Meyer-Barkhausen (1927): nach Vollendung des Chores am Anfang des 15. Jahrhunderts, gewölbt jedoch erst 1472. Großmann (1960): Erhöhung des südlichen Seitenschiffe: schon im 14. Jahrhundert vor dem Chorneubau, Erhöhung des nördlichen Seitenschilfes 1472.

[07] Die Ausgrabungen waren bei Fertigstellung des Manuskriptes noch nicht abgeschlossen. Der Grabungsbericht wird genauere Einzelheiten über die Grabungsbefunde, Rekonstruktion und Datierung erbringen.

[08] Für alle Höhenangaben wird das ursprüngliche, jetzt wieder freigelegte Langhausniveau zugrunde gelegt.

[09] Für den Alsfelder Chor ist eine entsprechende Lösung an seinen Langseiten-Mitten nicht anzunehmen, weil hier die Dienststäbe unterschiedliche Stärken aufweisen, im Gegensatz zu Treysa, wo die drei Dienststäbe alle gleich stark sind. In Treysa enthält das nördliche Seitenschilf noch fünfgliedrige Bündeldienste.

[10] z.B.: Berstadt (Kreis Büdingen).

[11] Arnsburg: vgl. z.B. Inv. 1919, Abb. 93. – Beispiele aus dem Arnsburger Umkreis: Geiß-Nidda (Kreis Büdingen), Gonterskirchen (Kreis Gießen), Münzenberg (Kreis Friedberg).

[12] Einziges Beispiel an der Innenseite der Langhausseitenportale der Elisabethkirche zu Marburg.

[13] Laibungsprofil: vgl. z.B. Konsolprofile an der Westwand des Kapitelsaales oder am Kreuzgang in Arnsburg (Inv. 1919, S. 132, Abb. 113) Türform: vgl. z.B. das Mönchsportal vom Kreuzgang zur Kirche oder die Tür zu den Nebenräumen des Schlafsaales in Arnsburg (Inv. 1919, S. 74, Abb. 60 und S. 120, Abb. 105).

[14] Dehio-Backes, 1966, S. 24.

[15] Vgl. S. 87.

[16] Der betreffende Scheidebogenansatz zeigt – soweit er erhalten ist – ein asymmetrisches Profil aus einem Unterzug, der achsial über dem Dienstkapitell angeordnet ist, sowie aus einer Profilstute auf der Mittelschilfseite. Es ist jedoch fraglich, ob der Scheidebogen tatsächlich so asymmetrisch über dem Pfeiler angeordnet war, was an sich recht ungewöhnlich wäre, oder ob er ursprünglich auch auf der Seitenschiffseite durch eine Profilstufe symmetrisch ergänzt wurde, wie es die Regel wäre. Da die stehengebliebenen Obergadenwände jedoch in ihrer vollen Hohe diese asymmetrische Anordnung über den Pfeilern aufweisen, müsste bei einer symmetrischen Rekonstruktion der Scheidebogen angenommen werden, dass die Obergadenwand in der Arkadenzone ursprünglich eine entsprechend größere Stärke aufwies und erst am Anschlag der einstigen Seitenschiffsdächer auf die bestehende Stärke reduziert wurde, eine Lösung, die ihrerseits ebenfalls ungewöhnlich wäre. Fraglich ist auch, ob das abgestufte Scheidebogenprofil tatsächlich abwechselnd abgefast und kantig gebildet war: auf der an der fraglichen Stelle im 2. Joch rechteckigen Deckplatten des Pfeilerkapitells findet die Kante des Unterzuges Platz, nicht jedoch auf den sonst üblichen runden Kapitell-Deckplatten, über denen ein beidseitig abgefaster Unterzug angenommen werden müsste. Möglicherweise handelt es sich an dieser Stelle um ein noch nicht ganz geklärtes System, weil nur hier und im 1. Joch rechteckige Kapitell-Deckplatten sowie von den übrigen abweichende Kapitell-Schmuckformen vorkommen, während die Formen in den drei folgenden Jochen sonst einheitlich bleiben. Wahrscheinlich kann also ein abgefastes Stufenprofil für die Scheidebogen angenommen werden, das vermutlich symmetrisch aus jeweils einer Stufe zu beiden Seiten des Unterzuges bestand.

[17] Es kann allerdings nicht geklärt werden, ob die Mittelschiffswölbung mit diesen Birnstabrippen tatsächlich auch schon vollendet war und ob die vorhandenen Gewölbe mit Kehlstabrippen erst auf Grund eines Einsturzes des ursprünglichen Gewölbes – etwa im Zusammenhang mit dem Einsturz des Turmes 1394 – neu eingezogen werden mussten, oder ob das Mittelschilf zunächst ungewölbt geblieben war und erst später mit den Kehlstabrippen vollendet wurde. Derartige spätere Einwölbungen zunächst ungewölbt überdachter Kirchenschiffe sind nicht selten; beim Bau der Obergadenwände wurden die Rippenanfänger als einbindende Keilsteine mit eingemauert, so dass bei einer späteren Ausführung der Gewölbe die Rippen nur von dem Punkt an weitergeführt zu werden brauchten, wo sie sich von der Wand lösen.

[18] Die Maßwerkfüllung ist nicht mehr original, sie konnte jedoch bei der Erneuerung von 1913/1914 mit völliger Sicherheit nach den erhaltenen Rahmenteilen und Ausbruchspuren rekonstruiert werden. [Seite-99] Vgl. Friedrich Kuhlmann. Die Wiederherstellung der Walpurgiskirche zu Alsfeld. In: Festschrift zur Siebenhundertjahr-Feier der Stadt Alsfeld. Alsfeld, 1922. S. 137-149. Die gedrungenen Maßwerkproportionen lassen nicht vermuten, dass die Fenster ursprünglich höher waren. Es ist auch zu berücksichtigen, dass der Dachanschlag der einstigen Seitenschiffsdächer gar nicht viel tiefer unter dem bestehenden Fensterfuß angenommen werden kann.

[19] Allenfalls könnte in der weiten Wandfläche zwischen Scheidebogen und Fenstern jeweils eine kleine Öffnung zum Seitenschiffsdach oder eine entsprechend kleine Nische angeordnet gewesen sein. Entsprechende Vergleichsbeispiele werden im Folgenden jedoch als für Alsfeld weniger verbindlich erkannt werden; die dort als für Alsfeld vorbildlich zitierten Bauwerke weisen keine derartige Untergliederung auf.

[20] Die gleichen stilgeschichtlichen Phänomene finden sich übereinstimmend auch an basilikalen Bauwerken. Vermehrung der Dienste: Kölner Domchor, ab 1248 (innere Pfeilerreihe: zwölf Dienste: äußere Pfeilerreihe nach dem Vorbild von Amiens: acht Dienste = Vorbild für Minden); Eliminierung der Dienste: Trier Liebfrauenkirche, 1242 im Blau (mit Ausnahme der Vierungspfeiler); Beibehaltung der vierdienstig kantonierten Pfeilerform unter Konzentration der Gewölbeglieder auf die querachsialen Pfeilerdienste: Köln Minoritenkirche, basilikales Langhaus 1259 begonnen (auf dieses Beispiel wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein).

[21] Paul Frankl, Gothic Architecture. 1962. S. 133 f.

[22] Albert Verbeek, Zur Baugeschichte der Kölner Minoritenkirche. In: Kölner Untersuchungen (hrsg. von Walter Zimmermann), Ratingen, 1950.

[23] Angesichts der tastenden Entwicklung dieses Gestaltungsproblems in den genannten Kirchen erscheint hier diese Lösung durchaus selbständig aus dem Kölner Vorbild entwickelt. Das weit entfernte Beispiel der kämpferlosen Achteckpfeiler in der Dominikanerkirche zu Regensburg braucht nicht zwingend als Katalysator in Anspruch genommen zu werden, wie es Franz-Josef Reichert (Die Baugeschichte der Benediktiner-Abtei Tholey. Saarbrücken, 1961 = Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde des Saarlandes, Bd. 3, S. 204-207) in Anlehnung an Werner Groß (Die Hochgotik im deutschen Kirchenbau. Der Stilwandel um das Jahr 1250. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, VII. 1933, S. 309 f.) vorschlägt.

[24] Beispiele: Ostfenster der ehem. Klosterkirche in Immichenhain (Kreis Ziegenhain), dessen trierische Maßwerkform – vielleicht über Marienstatt vermittelt – frühestens um die Jahrhundertmitte anzusetzen ist. Chorfenster der ehem. Stiftskirche in Wetter, die im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts anzusetzen sind (auf dieses Beispiel weist bereits Meyer-Barkhausen, 1927, hin). Die unteren Sakristeifenster an der Marburger Elisabethkirche aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Sowie davon abzuleitende Fensterformen an der Totenkirche in Treysa, der ehem. Stadtkirche in Grünberg usw.

[25] Beispiele: Ausgeschnittene Lanzettfenster im Kapitelsaal von Arnsburg als einfachste Grundform. Ausgeschnittene Maßwerkfenster in den Rechteckchören von Berstadt (Kreis Büdingen), Crainfeld (Kreis Lauterbach), Ehringshausen (Kreis Alsfeld), Einartshausen (Kreis Büdingen), Münzenberg (Kreis Friedberg) und Södel (Kreis Friedberg), wobei das letzte Beispiel die engste Parallele zu den Alsfelder Obergadenfenstern darstellt.

[26] z.B. Stirnfenster am Chor der ehem. Dominikanerkirche in Koblenz, wohl noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts (?).

[27] Heinrich Walbe, Restaurierungsbericht, in: Jahresbericht der Denkmalpflege im Volksstaat Hessen 1913-1928, Bd. IVa, Darmstadt 1930. S. 149-158.

[28] Der dritte Dienst war abgeschlagen, sein Sockel wurde jetzt ebenfalls entfernt, um die Aufstellung eines Epitaphs zu ermöglichen.

[29] Ein Foto von der Erneuerung 1913/1914 (im Denkmalarchiv Marburg) lässt erkennen, dass an den anderen Pfeilern diese seitenschiffseitigen Kapitelle auch schon vor ihrer Erneuerung entsprechend angesetzt waren.

[30] Vgl. Gottfried Kiesow, Das Maßwerk in der deutschen Baukunst bis 1350 (mit Ausnahme des Backsteingebietes). Diss. phil. Göttingen, 1956.

[31] Dieser Befund ist über dem Gewölbe der oberen Sakristei festzustellen.

[32] Inv. Erfurt, Bd. II/1, 1931, S. 165.

[33] Ratsprotokoll vom 19. Oktober 1723. Vgl.: Mittellungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, VI (1934), S. 134. Damit ist die These von Heinrich Walbe (Von den Hallenkirchen Oberhessens und von der Pfarrkirche zu Homberg a. d. Ohm. In: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte XII, 1941 = Festschrift Wilhelm Diehl. S. 213-226) hinfällig, der aus den erhaltenen Obergadenfenstern des 2. Joches in Analogie zu Homberg schließt, in Alsfeld sei zunächst eine Hallenerweiterung mit ungleich hohen Schiffen (Stufenhalle) vorgesehen gewesen.

[34] Chorographie von Gilsa und Leusler. Abgedruckt in den Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 5. Reihe (1922). Siehe S. 113.

[35] Inv. Gelnhausen 1901, S. 67.

[36] Sogar eine Glocke hat den angeblichen Einsturz überdauert: die Mittagsglocke von 1333, vgl. Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 2. Reihe, Nr. 2, S. 3.

[37] Vgl. Meyer-Barkhausen, 1958/1959.

Erstveröffentlichung:

Dr. Jürgen Michler, Die Walpurgiskirche zu Alsfeld. Ihre Baugeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung, in: GMV Alsfeld (Hrsg.): Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, 1972, S. 65-100.

Rechtliche Anmerkung:

Die vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e.V. 1972 herausgegebene Festschrift „750-Jahre Stadt Alsfeld 1222-1972“, die den vorliegenden Text enthält, verzichtet, abgesehen von der Kennzeichnung weniger Grafiken, auf Copyright-Vermerke oder andere publikationsrechtliche Einschränkungen.

[15.04.2024]