Die Stadtkirche St. Walpurgis in Alsfeld

Von Dr. Werner Meyer-Barkhausen, Marburg (1958)

Alsfeld gehört zu den wenigen alten deutschen Städten, in denen sich der geschlossene Platz um die Kirche in seiner Absonderung von Markt und Verkehr verhältnismäßig ungestört erhalten hat. Hier hat man der Versuchung, die Kirche „freizulegen“ erfolgreich widerstanden. Die kleine Lücke im Bebauungsring an der Obergasse wurde neuerdings durch den schönen Schwälmer Brunnen gut ausgefüllt. So erscheint vom Marktplatz aus die Kirche mit ihrem Rathaus und Weinhaus überragenden Turm nah und zugleich in gemessenem Abstand. Gleich hinter dem Rathaus steht man dann vor den vier schlanken Giebeljochen der südlichen Kirchenwand, die sich mit ihren zwei Maßwerkportalen in den Mitteljochen als Schauseite und Eingangswand darstellt. Weit überragt wird sie vom hohen Steildach des Chores, der sich schmal mit schlanken Strebepfeilern und hohen Maßwerkfenstern schiffsbugartig nach Osten wendet. Wieder anders die Nordseite der Kirche mit horizontalem Abschluss der Wand und Walmdächern darüber. Schließlich der massige Westturm mit der spitzbogigen Durchgangshalle und dem achtseitigen haubenbekrönten Aufsatz des Meisters Hans von Frankfurt.

Abb. 1: Grundriss der Walpurgiskirche

Vielgestaltig wie das Äußere ist auch das Innere der Kirche. Nicht aus einem Guss, sondern in Jahrhunderten gewachsen bietet der Raum ein reizvoll malerisches Bild, in dem die Steigerung von der verhältnismäßig dunklen Halle zu dem hohen lichtdurchfluteten Chor eindruckbestimmend ist. Die sehr interessante Baugeschichte der Kirche kann aus den stehengebliebenen Resten älterer Bauzustände verhältnismäßig leicht abgelesen werden.

Die frühgotische Basilika [01]

Vielleicht im Zusammenhang mit der Verleihung der Stadtrechte an Alsfeld begann man um 1240 mit dem Bau einer neuen dreischiffigen Kirche mit Westturm, der eine ältere einschiffige Dorfkirche vorangegangen sein mag. Die geringen Reste des kleinen Chores mit angebauter Sakristei zeigen z.T. noch spätromanische Formen (Sakristeitür). Vom Langhaus sind die Mittelschiffswände, wenn auch verändert, im Wesentlichen erhalten. Sie ruhen auf kräftigen, niedrigen, mit vier Diensten [03] besetzten Rundpfeilern, [Seite-20] die mit einem Kehlgesims abschließen. Die niedrigen spitzbogigen Arkaden [02] sind im Westjoch unter der Empore erhalten. Sie zeigen auch die Höhe der ursprünglichen Seitenschiffsgewölbe an, deren Anschnitte an der – später erhöhten – südlichen Außenwand festgestellt werden konnten.

Abb. 2: Walpurgiskirche – Südansicht
Foto: Meyer-Barkhausen

Die Dienste für das Mittelschiffsgewölbe sind über das Kehlgesims der Rundpfeiler hinaus hochgeführt. Auf ihren schlichten Blattkapitellen mit dreiseitiger Deckplatte sind noch die Anfänger der Rippen und Gurtbögen des ursprünglichen frühgotischen Gewölbes erhalten, wiederbenutzt für das im 15. Jahrhundert erneuerte Gewölbe. Von den in verschiedener Höhe geöffneten vier Wandjochen zeigt das zweite von Westen noch die alten, bei der Wiederherstellung nach Resten ergänzten Mittelschiffsfenster: Plattenfenster mit kleinem Dreipass über den beiden nasenbesetzten Spitzbögen in beiderseits tief abgeschrägtem Gewände, eine Form, die um 1250 im nördlichen Hessen mehrfach nachzuweisen ist. Bei der Erneuerung des Kirchendaches 1905 wurde das ursprüngliche Abschlussgesims der Mittelschiffshochwand freigelegt. Mit kräftigem Viertelstab und Kehle profiliert bei roter Bemalung und blaugrauem Zickzackfries darunter erscheint es noch rein romanisch. Fortschrittlicher sind, jedenfalls z. T., die einfachen Blatt- oder Knollenkapitelle der Arkaden- und Gewölbestützen mit runden oderdreiseitigen Deckplatten.

Für die baugeschichtlichen Zusammenhänge geben die ganz ungewöhnlichen mit vier Diensten besetzten Rundpfeiler einen Fingerzeig. Sie weisen auf die Hallenpfeiler der seit 1235 im Bau befindlichen Elisabethkirche in Marburg, die die mit vier Diensten besetzten Rundpfeiler von der Kathedrale in Reims übernommen hat. Man nimmt an, dass sich in dem Alsfelder Pfeilersystem ein ursprünglicher, vielleicht in Anfängen schon ausgeführter basilikaler Plan der Elisabethkirche spiegelt, der in Marburg spätestens um 1260 in das System der Hallenkirche überführt wurde [01].

Der Chor von 1393

Der wirtschaftliche und politische Aufschwung des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts scheint wie in vielen anderen Städten auch in Alsfeld den Wunsch nach einer neuen größeren und schöneren Stadtkirche geweckt zu haben. Man beginnt 1393 mit dem Chor. Man ersetzt den kleinen, niedrigen Chor der frühgotischen Kirche durch das noch bestehende hohe und weiträumige Bauwerk, das das Langhaus weit überragt. Der Grundriss zeigt zwei Rechteckjoche, an die sich der Abschluss mit fünf Seiten des Achtecks fügt. In der Außenansicht schwingen sich über einer Sockelzone dreiteilige Maßwerkfenster [04] in kühnem Anstieg leicht empor, gerahmt von schlanken, wohlgegliederten Strebepfeilern, die unter dem Dachgesims mit Kreuzblume abschließen. An den Ecken des Chorpolygons waren sie über der Sockelzone mit Heiligenstatuen besetzt, deren Konsolen – Büstenkonsolen mit ausdrucksvollen Köpfen – und Baldachine erhalten sind. Leider sind die unteren Teile der Fenster, anscheinend beim Einbau der Emporen, vermauert.

Das Raumbild des Chores ist durch die Emporen und die hier angebrachte Orgel heute erheblich beeinträchtigt. Schon eine anderweitige Aufstellung der Orgel würde hier viel bessern können. [Seite-21]

Für die kunstgeschichtliche Einordnung sind die Konsolenbüsten außen sowie die prächtige Blattmaske an der südlichen Innenwand wichtig: Sie stehen anscheinend dem Parlerkreise nahe, der ja in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die süd- und westdeutsche Architektur weitgehend beeinflusst hat. Insbesondere war Köln ein Zentrum dieser Kunst, aus dem vielleicht auch der Meister des Alsfelder Chores hervorgegangen ist.

Umbau des Langhauses zur Halle

Die Verzahnungssteine in den das Langhaus überragenden Mauern des Chores lassen keinen Zweifel, dass beabsichtigt war, auch das Langhaus zu erneuern und es – bei entsprechender Verbreiterung – der Chorhöhe anzupassen. Jedoch scheinen die finanziellen Mittel erschöpft gewesen zu sein, nachdem man auch noch den 1394 eingestürzten Westturm hatte erneuern müssen. So begnügte man sich zunächst mit einem provisorischen Umbau der alten Basilika, der dann, wie so häufig im mittelalterlichen Kirchenbau, Dauerzustand wurde. Zur Herstellung einer dreischiffigen Hallenkirche, der damals in weitem Umkreis üblichen Kirchenform, wurden die Seitenschiffsmauern auf die Höhe des Mittelschiffs gebracht. Neue Gewölbe auf Wandkonsolen wurden eingezogen. Die Verbindung dieser schmalen, hohen, durch große Maßwerkfenster erhellten Seitenschiffe mit dem alten Mittelschiff konnte jedoch nur unvollkommen durch rohe Erweiterung der alten Arkaden erreicht werden, zumal die Wandausbrüche zunächst wohl in allen Jochen nur bis unter die alten Mittelschiffsfenster gingen, wie heute noch im zweiten Joch. Die Wandstücke über den alten Rundpfeilern wurden dabei mehr oder weniger holprig zu Hallenpfeilern umgestaltet mit rohen Vorlagen in den Seitenschiffen, die aus den alten Strebepfeilern gewonnen wurden.

Abb. 3: Schnitzaltar und Empore im Chor
Foto: Meyer-Barkhausen

Ob die Verbreiterung des nördlichen Seitenschiffs, das auch eine sorgfältigere Bearbeitung der Pfeiler und Vorlagen sowie reicheren Schmuck der Gewölbekonsolen aufweist, gleich im Anschluss an den Chorbau durchgeführt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls ist die Einwölbung erst 1472 erfolgt (Inschrift am nordwestlichen Pfeiler). Die Neueinwölbung des Mittelschiffes scheint gleich bei dem Gesamtumbau erfolgt zu sein, zugleich mit dem Einbau der schönen Westempore, um deretwillen die ursprünglichen frühgotischen Seitenschiffsarkaden im Westjoch erhalten blieben.

Erst Jahrhunderte später (1738) kam es zu einer stärkeren Erweiterung der beiden östlichen Arkaden beiderseits, anscheinend zusammen mit einer Erhöhung des Chorbogens, auf die wohl eine Inschrift an der Westwand des Chores zu beziehen ist.

Im Ganzen ist zu sagen, dass der Umbau des frühgotischen basilikalen Langhauses zur Hallenkirche nur unvollkommen gelungen ist. Ein einheitlicher Hallenraum ist nicht entstanden, und das dunkle Mittelschiff mit seinen fast noch romanisch schweren Verhältnissen hat noch weitgehend selbständig-basilikalen Charakter.

Der Turm

Wie der Turm der frühgotischen Kirche aussah, wissen wir nicht. Nach einer Inschrift in der Durchgangshalle stürzte er am 25. Januar 1394 ein. Am 7. Mai des gleichen Jahres [Seite-22] wurde bereits mit dem Bau des neuen Turmes begonnen. Auf ungefähre Gleichzeitigkeit mit dem Chorbau von 1393 weisen auch die Büstenkonsolen unter dem Rippengewölbe der Turmhalle. Sie sind allerdings wesentlich derber und schematischer als die Chorkonsolen. Nur die Konsole für eine Heiligenfigur außen über dem Spitzbogen der Südseite, die eine weibliche Büste mit dem Wappen des Alsfelder Geschlechtes Schaufuß zeigt (Stifter?), ist den Figurenkonsolen außen am Chor so ähnlich, dass man an den gleichen Meister denken möchte.

Nur durch schmale Gesimse gegliedert und mit verhältnismäßig kleinen Fensteröffnungen baut sich der massive Turmklotz in vier Geschossen auf. Der ursprüngliche obere Abschluss ist nicht bekannt. Er wurde 1542 auf landgräflichen Befehl abgebrochen und von Meister Hans von Frankfurt, dem Erbauer des Weinhauses, durch einen achtseitigen Aufbau mit Haubendach und schlanker Laterne ersetzt. Dabei erhielten die das Turmviereck und den Aufsatz abschließenden Umgänge ihre reichen Maßwerkbrüstungen. Für das Stadt- und Straßenbild ist der Turm mit seiner charakteristischen Bekrönung und namentlich mit dem reizvollen spitzbogigen Durchgang vom Markt zum Kirchplatz von großer Bedeutung.

Abb. 4: Nördlicher Arkadenpfeiler
mit Seitenschiff
Foto: Meyer-Barkhausen

Die Ausstattung

An Schmuckformen ist die Walpurgiskirche nicht reich. Ein eigentliches Hauptportal fehlt. Die vier Portale an der Südseite, das der Nordseite und das Turmportal sind von einfachster Form. Von den Statuen der Chorstrebepfeiler und des Turmes sind nur die schon erwähnten Büstenkonsolen und die Baldachine auf uns gekommen. Figürliche Schmuck findet sich sonst nur an den Gewölbekonsolen in der Turmhalle, im Chor und im nördlichen Seitenschiff. Einige Schlusssteine sind bemerkenswert, so der mit den kreisenden Fischen im südlichen Seitenschiff. Die Gewölbedienste im Chor haben fein ausgearbeitete, zierliche Laubkapitelle. Reste der alten Malereien wurden bei der Wiederherstellung 1913 freigelegt und in die Neuausmalung der Kirche einbezogen. Zwei größere gotische Wandgemälde sind erhalten: Die schöne Verkündigung auf der Westemporenbrüstung aus der Zeit um 1400 und das große Christophorusbild an der Ostwand des nördlichen Seitenschiffes, das aus der Zeit der Einwölbung von 1472 stammen mag. Von alten Ausstattungsstücken seien genannt: 1. Der große romanische Taufstein im Chor mit figürlichen Arkadenreliefs und Inschrift am oberen Rande. 2. Das Gestühl an der Südwand des Chores mit reich geschnitzter Wange, einen Bischof mit einem Drachen darstellend. 3. Das Wandtabernakel im Chor aus der Zeit des Chorbaues mit einer Kreuzigung im Bogenfeld. 4. Der spätgotische Schnitzaltar mit Kreuzigung im Mittelfeld an der nördlichen Chorwand. Durch zu geleckte Restaurierung und Ergänzung beeinträchtigt. Reste der gemalten Flügel im Museum. 5. Das große Triumphkreuz mit Maria und Johannes im Chorbogen. 6. Die reich geschnitzten Säulen der Chorempore von 1638, z.T. wiederhergestellt nach 1646. 7. Die Kanzel als Nachbildung der 1913 durch Brand zerstörten des Michael Fink von 1618. 8. Von Grabmälern sind die beiden des Jost Stumpf und seiner Ehefrau von 1632 (mit ausgezeichneten lebendigen Bildnissen des Ehepaares) und des Conrad Schlanhoff (nach 1633) durch reichen figürlichen Schmuck ausgezeichnet.

Abb. 5: Dienstkonsole im Chor
Foto: Meyer-Barkhausen

Im Ganzen gesehen wird man die Alsfelder Walpurgiskirche zwar nicht den bedeutenderen Schöpfungen gotischer Kirchenbaukunst zurechnen dürfen. Sie gehört zu der großen Zahl liebenswerter deutscher Stadtkirchen mittlerer Größe, die als überragender Mittelpunkt das alte [Seite-23] Stadtbild zusammenhalten, und in deren Baugeschichte sich die Geschichte des Gemeinwesens spiegelt im Wechsel von kühner Planung und finanzieller Flaute, von freier Aufgeschlossenheit und karger Enge bürgerlichen Alltags.

Zu den Fachausdrücken:

1) Als Basilika bezeichnet man eine dreischiffige Kirche, deren über die Seitenschiffe erhöhtes Mittelschiff eigene Fenster hat. Die Hallenkirche hat dagegen drei gleichhohe Schiffe, die durch Fenster in den Außenwänden erhellt werden.

2) Arkaden = Mittelschiffs- oder Seitenschiffsarkaden sind die auf Säulen oder Pfeilern ruhenden Bogenöffnungen zwischen Mittelschiff und Seitenschiffen der Basilika.

3) Als Dienste bezeichnet man die dem Hauptfeiler angelegten, den Gewölberippen und -Gurten und den inneren Arkadenbögen dienenden dünnen Säulchen.

4) Maßwerk sind die oft in reichen Mustern ausgeführten Steinvergitterungen gotischer Fenster.

Erstveröffentlichung:

Werner Meyer-Barkhausen, Die Stadtkirche St. Walpurgis in Alsfeld, in: Hessische Heimat, 8. Jahrgang, 1958/1959, Heft 2, S. 19-23.

(Frau Dr. Irene Ewinkel, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Kultur- und Denkmalpflege, Hessischer Heimatbund e.V., Geschäftsstelle: Michelbacher Str. 34a, D-35041 Marburg, hat die Veröffentlichung des Textes auf www.Geschichtsforum-Alsfeld.de gestattet. Herzlichen Dank!)

[Stand: 13.04.2024]